Zum 90.Todestag Lenins
Teil 1: „Bindeglieder” zwischen Marxismus und Leninismus
Von Dr. Hans-Peter Brenner
Am 21.1.14 jährt sich der 90. Todestag Wladimir Iljitsch Uljanows. Dieser russische Rechtsanwalt, Sträfling und Asylant mit schwedischen, kalmückischen, deutschen und jüdischen Ahnen trug im Laufe seiner langen konspirativen Arbeit viele Decknamen – z.B. Petrow, William Frey, Iljin, Karpow, Karpin, Konstantin Petrowitsch Iwanow, P. Ossipow, Jacob Richter oder einfach „der Alte”.
Als Lenin, Mann von der Lena, als Initiator und Führer der sozialistischen Oktoberrevolution ging er in die Geschichte ein. Als Lenin wurde er in der kommunistischen Bewegung jahrzehntelang – teilweise wie eine Art höheres Wesen – verehrt. Aus Anlass seines 100. Geburtstages erklärte die letzte Internationale Beratung der Kommunistischen Parteien 1969 in Moskau: „Vor der nahenden 100. Wiederkehr des Geburtstages W. I. Lenins gedenkt die Beratung der kommunistischen Arbeiterparteien des unsterblichen Genius unserer revolutionären Epoche (…).
Der Sieg der sozialistischen Revolution in einer Gruppe von Ländern, die Entstehung des sozialistischen Weltsystems, die Errungenschaften der Arbeiterbewegung in den Ländern des Kapitals, der Eintritt der Völker der ehemaligen Kolonien und Halbkolonien auf den Schauplatz der selbständigen historischen Tätigkeit, der beispiellose Aufschwung des antiimperialistischen Kampfes – all das beweist, dass der Leninismus, der die grundlegenden Erfordernisse der gegenwärtigen Epoche ausdrückt, historisch im Recht ist.” (Dokumentenband der Moskauer Beratung Kommunistischer und Arbeiterparteien von 1969, S. 47/48)
Vielen – auch Kommunistinnen und Kommunisten – werden diese triumphalen Aussagen heute wie Hohn in den Ohren klingen. Die rote Fahne der Arbeiter-und-Bauern-Macht weht nun schon fast ein Vierteljahrhundert nicht mehr über Moskau und über Russland. Die Sowjetunion und das sozialistische Lager sind zertrümmert. Statt der Sowjets beherrscht eine neue Kompradorenbourgeoisie, an der Spitze politische Renegaten und Abenteurer im Bunde mit Kriminellen und Mafiosi, das ehemalige „Land Lenins”.
Die Konterrevolution tut alles, um den Namen und das Werk Lenins aus der Geschichte zu löschen. Entfernung von Lenin-Denkmälern, Umbenennung von Straßennamen und Plätzen sind nur die „äußeren Zeichen dafür. Das Verbot von „kommunistischen Symbolen” und sogar das Verbot des Begriffs „kommunistisch” im Namen einer Arbeiterpartei stehen für den Versuch der Auslöschung des mit dem Namen Lenin verbundenen Zeitabschnmitts des vergangenen Jahrhunderts.
Mit Hilfe „gewendeter” Historiker, Philosophen und Literaten wie dem ehemaligen KPDSU-ZK-Mitglied Dimitri Wolkogonow, der wegen seiner Beteiligung an der militärischen Zerschlagung des letzten gewählten Sowjetparlaments zum Generaloberst und Militärberater Jelzins ernannt wurde, sollte auch ein neues Lenin-Bild entstehen.
Wolkogonow hatte auch in der DKP Ende der 80er Jahre durch seine Stalin-Biographie Aufsehen erregt. Darin verteidigte er noch Lenin gegen den angeblich machtbesessenen Tyrannen und das – so wortwörtlich – „Monster” Stalin (S. 114). Lenin dagegen war der alles überragende Stratege und Theoretiker – so Wolkogonow damals. Er schrieb z.B.:
„Lenin stand in intellektueller Hinsicht so hoch über seinen Mitkämpfern, dass seine Gedanken ihr Bewusstsein oft nicht erreichten.” (S. 128) (1)
Dieser Supermann und Held Lenin war nun nach der später erschienenen Lenin-Biographie desselben Wolkogonow in jungen Jahren ein reicher, adeliger Müßiggänger und Bohemien (S. 54), der sich den Luxus vielfältiger Europareisen leisten konnte (S. 52), seine angenehmen Exiljahre vor allem mit Faulenzerei und Sommerurlauben in der Schweiz und auf Capri verbrachte und als über Vierzigjähriger „immer noch auf Kosten der Familie” lebte (S 56).
Er sei Repräsentant einer „grausamen Philosophie” (S. 311), eines „zynischen und vulgären Pragmatismus” (S.466) gewesen, mit den Augen eines „bösen Wolfes” (S. 23); er war ein Vaterlandsverräter (S. 23), wegen seines Radikalismus selbst von den Bolschewiki gefürchtet (S. 16), der im Oktober 1917 „die Massen fanatisch zu einem Aufstand gegen die Provisorische Regierung trieb”. (S. 16). Dieser einst von Wolkogonow als intellektuelles Genie gepriesene Lenin „verflachte” den Marxismus „zu einem „Katechismus des Klassenkampfs”. (S. 46).
Sah Wolkonow noch wenige Jahre zuvor Stalin als „Abweichler” vom Pfad der Leninschen Tugend, so ist für ihn nur wenig später Lenin selbst der Urheber allen Übels, aller erdichteten und wahren Fehler und Verbrechen, die zum Schreckgespenst eines angeblichen „Stalinismus” aufgeblasen wurden und werden: „Lenin lehrte Stalin Erbarmungslosigkeit, Unnachgiebigkeit, List, Zielstrebigkeit und die Fähigkeit mit den Parteikadern zusammenzuarbeiten. Stalin erwies sich als gelehriger Schüler.” (S. 287) (2)
Wer denkt da nicht an das Sprichwort: „Wer hoch erhoben wird, der stürzt tief!”
Die PDS auf dem „dritten Weg”
Schon deshalb stellt sich die Frage: Hat nicht die Geschichte alles, wofür der Name Lenins über 70 Jahre stand, endgültig widerlegt und blamiert? Ist Lenin nicht nur noch eine Sache von unverbesserlichen Nostalgikern? Ein nicht unerheblicher Teil von sich als „links” empfindenden Menschen denkt so. Die PDS war z.B. angetreten, um das bereits 1990 von Gregor Gysi angekündigte Projekt eines „dritten Weges” ohne Lenin und den Leninismus umzusetzen.
Eine entscheidende erste Weichenstellung für die programmatischen Arbeiten der PDS, die zur Entwicklung eines neuen „demokratisch-sozialistischen” Profils führen sollte, wurde seinerzeit durch eine Klausurtagung des PDS-Parteivorstands im Mai 1990 vorgenommen.
Seitdem dienten die verschiedenen programmatischen Ansätze der PDS der Ausfüllung dieser damaligen Richtungsvorgabe.
Gysi sagte damals: „Eine der wichtigsten Fragen ist die Haltung unserer Partei zum Marxismus und zum Werk Lenins (…) Der bisherige, sich auf Marx berufende Ansatz des theoretischen Selbstverständnisses der PDS ist (…) auf längere Sicht nicht ausreichend, auch wenn dies durch neue theoretische Quellen erweitert wird.
Die Frage ist vielmehr, wie es gelingt, alle fortschrittlichen Ideen, die in der marxistischen, sozialistisch-sozialdemokratischen, liberalen, christlichen, aber auch konservativen Denktradition entstanden sind, schöpferisch aufzunehmen und zu verarbeiten.
Die Partei muss ein neues theoretisches Verständnis von der Gesellschaft aufbauen. Die bisherigen marxistisch-leninistischen Theorieansätze von Sozialismus und Kapitalismus sind hierfür ebenso wenig geeignet wie die einfache Übernahme liberaler oder ähnlicher Gesellschaftstheorien.” (Broschüre der Klausurtagung, S. 29-30)
Aus dem Führungszirkel der PDS kamen danach am laufenden Band neue strategische Angebote zu einer „Transformation” der Partei in Richtung eines „demokratischen Sozialismus”. Viele sind längst vergessen, wie Gysis „Ingolstädter Manifest“ von 1994 zu einem neuen „Gesellschaftsvertrag”, die „10 Thesen über den weiteren Weg der PDS” des PDS-PV, die dann durch das „Fünf-Punkte-Papier” von L. Bisky/G. Gysi/H. Modrow ersetzt wurden, oder ein „Strategiepapier” von L. Bisky/A. Brie für eine “neosozialistische Alternative” nach der Art eines „libertären, demokratischen Sozialismus”.
Die ohne jegliche Lenin-Bezüge formulierten Grundsatzpapiere der PDS fanden eine Fortsetzung und den Abschluss in den verschiedenen Programmen der Partei Die Linke, in denen selbst die kleinste Anspielung auf Lenin nicht mehr auftaucht. Lenin ist für diese Partei eine obsolete Figur geworden. Neueren Datums sind die Publikationen von D. Klein und M. Brie über die friedliche „Transformation” des Kapitalismus. In der letzten Variante auch als „doppelte” Transformation gedacht.
Es gibt viele Fragestellungen, die heute im Zusammenhang mit Lenin gestellt werden könnten. Man kann fragen, ob es überhaupt noch einen politischen Sinn machen kann, wenn man heute noch von „Marxismus-Leninismus” spricht und sich dazu als eigener Weltanschauung bekennt. Diese Frage wird von denen in der DKP verneint, die wie die Autoren und Verfechter der „Thesen des Sekretariats”, die sich seit einigen Monaten um Leo Mayer und Bettina Jürgensen als eine eigenständige Fraktion innerhalb wie außerhalb der DKP formiert haben.
Sie haben mit ihrem 2. Bundestreffen zu Beginn des Dezembers 2013 den Startschuss zur Gründung einer politischen Vereinigung gegeben, die – gestützt auf diese „Thesen” – im Marxismus-Leninismus den Ausdruck überholten und orthodoxen Denkens sehen und ganz offensichtlich in die Nähe eines ominösen „Stalinismus” rücken möchten.
Es tut dann ganz gut zu wissen, wie einer der erprobtesten und respektiertesten kommunistischen Revolutionäre, Fidel Castro, sich zu diesem Thema äußerte.
Exkurs 1:
Fidel Castro über Marx, Engels, Lenin und den Marxismus-Leninismus
Das 2008 in Berlin erschienene und 780 Seiten starke Buch „Mein Leben” herausgegeben von Ignacio Ramonet, besteht aus den Protokollen von 100 Stunden Interview, die der spanische Journalist mit Fidel Castro vor dessen schwerer Erkrankung durchgeführt hatte. Fidel äußert sich darin ausführlich über seine politische und theoretische frühe Entwicklung und sein Verhältnis zu Marx, Engels und Lenin:
„Ich habe während meines ganzen Studiums mit studentischen Anhängern der von Chibás gegründeten Orthodoxen Partei zu tun gehabt und von Anfang an mit dieser Bewegung sympathisiert. Später sah ich dann einige Dinge, die mir nicht gefielen, ich wurde radikaler in meinem politischen Bewusstsein und lernte immer mehr über Marx und Lenin. Ich las Engels und andere Autoren und Werke, die sich mit wirtschaftlichen oder philosophischen Themen beschäftigten. Vor allem aber politische Bücher, der Konzepte und politischen Theorien von Karl Marx.
Welche Werke von Marx kannten Sie?
Die Schriften, die mir neben dem Manifest der Kommunistischen Partei am besten gefielen, waren Der Bürgerkrieg in Frankreich, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, die Kritik des Gothaer Programms und andere politische Analysen. Ich war beeindruckt von Marx’ Strenge und Disziplin, seinem uneigennützigen Leben und der Gründlichkeit seiner Studien. Von Lenin Staat und Revolution und Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Von Engels hat mich besonders sein Werk über die Geschichte der Arbeiterklasse in England beeindruckt.
Ein anderes Buch von ihm, das mir sehr imponierte, war die Dialektik der Natur, in dem er davon spricht, dass eines Tages die Sonne erlöschen wird, dass der Treibstoff; das Feuer dieses Sterns, der unsere Erde erleuchtet, sich erschöpfen und es kein Sonnenlicht mehr geben wird. Und das, obwohl Engels weder Die kurze Geschichte der Zeit von Stephen W. Hawkings hatte lesen können noch Einsteins Relativitätstheorie kannte.
Ich kann mich erinnern, dass anlässlich des Staatstreiches vom 10. März 1952 eine Menge Leute Lenins Was tun? gelesen haben. (…)
Als ich an die Uni am, war ich ein politischer Analphabet. (…) An dieser Universität (gemeint ist die Uni von Havanna – HPB), zu der ich nur mit einem rebellischen Geist und einigen elementaren Ideen über Gerechtigkeit gekommen war, wurde ich zum Revolutionär. Ich wurde zum Marxisten-Leninisten und eignete mir die Werte an, für die ich fortan mein ganzes Leben gekämpft habe.” (S. 101-102)
Zur Rolle von Marx und dem Marxismus:
„Als ich anfing Ideen auszuarbeiten – zu Beginn meiner Ökonomiestudien -, erfuhr ich, dass es einen Mann namens Karl Marx gab, dass es Marxisten gab, Kommunisten und Utopisten. Und da stellte ich fest, dass ich einer dieser Utopisten bin, verstehen Sie? (…)
Von Marx lernen wir, was die menschliche Gesellschaft ist; wer das nicht gelesen oder wen das nicht gelehrt wurde, der muss sich fühlen wie nachts in einem Wald ohne die Himmelsrichtung zu kennen. Marx lehrte uns, was die Gesellschaft ist und wie sie sich geschichtlich entwickelt hat. Ohne Marx kann man kein Argument formulieren, das zu einer vernünftigen Interpretation geschichtlicher Ereignisse führt – was die Tendenzen sind, welche die wahrscheinliche Entwicklung der Menschheit sein wird, die ihre soziale Evolution noch nicht abgeschlossen hat. (…)“ (S. 114)
Fidel als Marxist-Leninist:
„Am 10. März 1952, dem Tag des Staatsstreiches Batistas, war ich bereits seit einigen Jahren ein überzeugter Marxist und Leninist – aufgrund der Werte, die ich gewonnen hatte, aufgrund der Dinge, die ich in all den Jahren auf der Universität gelernt hatte. Ohne diesen Hintergrund hätte ich nie irgendeine Rolle spielen können.
Ohne Kompass wäre Kolumbus nirgendwo angekommen. Aber es gab einen Kompass, ich hatte einen: das, was ich bei Marx und Lenin gelernt hatte. Und die Ethik – das muss ich noch mal sagen – die ich bei Martí gefunden hatte.” (S. 116)
Auf die Frage zu seiner Haltung zum Christentum antwortete Castro:
„Ich habe kürzlich Hugo Chávez, dem venezolanischen Präsidenten, gegenüber – denn er ist ein gläubiger Christ und spricht sehr viel darüber – geäußert: ´Wenn Sie mich Christ nennen, dann sicherlich nicht von einem religiösen Standpunkt aus; aber vom sozialen Standpunkt aus kann ich bekräftigen, dass ich ebenfalls ein Christ bin´, aufgrund der Überzeugungen und Ziele, die ich vertrete.
Das war die erste Doktrin, die seinerzeit aufkam, und es waren barbarische Zeiten; diese Lehre brachte eine Reihe von sehr humanen Geboten hervor. Man muss nicht im religiösen Sinne christlich sein, um die ethischen Werte und die soziale Gerechtigkeit zu verstehen, die von diesem Denken veranlasst wurden.
Ich bin natürlich Sozialist. Ich bin Marxist und Leninist, ich habe es nicht aufgegeben, und ich werde es niemals tun.” (S.171)
Und zur Zwischenbemerkung des Interviewpartners: „Und ein Anhänger Martís natürlich auch” sagte Castro: „Natürlich, zuerst war ich Martíaner und danach war ich Martíaner, Marxist und Leninist.” (S. 171)
Fidel Castro stellt also den Marxismus-Leninismus als eine einheitliche und zusammenhängende Theorie und Weltanschauung dar. Somit ist die Frage nach den Verbindungslinien zwischen Marx , Engels und Lenin naheliegend. Worin bestehen diese Verbindungslinien?
Ich sehe erstens das wichtigste „Bindeglied” in der grundsätzlichen und historischen Bejahung der „Aktualität der Revolution”.
Das zweite Bindeglied ist die Theorie des Monopolkapitalismus, die Imperialismustheorie, Lenins.
Als drittes Feld nenne ich die Parteikonzeption, in ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Klassenbewusstsein und für den revolutionären Sturz des Kapitalismus.
Im Folgenden argumentiere ich zu den beiden ersten Zusammenhängen und „Verbindungslinien”. Der dritte Komplex folgt in einer gesonderten Ausarbeitung.
Das „Bindeglied” Nr. 1: die Aktualität der Revolution
Der ungarische marxistische Philosoph Georg Lukács, in der nur wenige Wochen bestehenden Ungarischen Räterepublik des Jahres 1919 Kommissar für Volksbildung, der auch im Westen über viele Jahre als Repräsentant eines „unorthodoxen Marxismus” zu relativ hohen Auflagen kam, zog in einem Grundsatzartikel zur Würdigung des kurz zuvor verstorbenen Lenin folgende Bilanz und Parallele zwischen ihm und Marx: Der historische Materialismus sei – so Lukács – die „Theorie der proletarischen Revolution”. In ihr finde das um seine Befreiung ringende Proletariat „sein klares Selbstbewusstsein”. Die Größe eines proletarischen Denkers, eines Vertreters des historischen Materialismus messe sich „an der Tiefe und Weite, die sein Blick in diesen Problemen erfasst”.
An diesem Maßstab gemessen sei Lenin „der größte Denker, den die revolutionäre Arbeiterbewegung seit Marx hervorgebracht hat.” Doch wüssten (im Jahre 1924) erst wenige, dass Lenin für unsere Epoche dasselbe geleistet hat, was Marx für die Gesamtentwicklung des Kapitalismus geleistet hatte. „Er hat in den Entwicklungsproblemen des modernen Russland – von den Entstehungsfragen des Kapitalismus in einem halbfeudalen Absolutismus bis zu den Problemen der Verwirklichung des Sozialismus in einem zurückgebliebenen Bauernland „stets die Probleme der ganzen Epoche gesehen: den Eintritt in die letzte Phase des Kapitalismus und die Möglichkeiten, den hier unvermeidlich gewordenen Entscheidungskampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat zugunsten des Proletariats, zur Rettung der Menschheit zu wenden.”
Er (Lenin) habe „mit dem Blick des Genies, bereits am Ort und im Zeitpunkt seiner ersten Wirksamkeit das Grundproblem unserer Zeit: die herannahende Revolution erkannt. Und er hat dann alle Entscheidungen, die russischen sowie die internationalen, aus dieser Perspektive, aus der Perspektive der Aktualität der Revolution verstanden und verständlich gemacht.
Die Aktualität der Revolution: dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet.” (3) Soweit Lukács.
Nun mag man ob dieser Huldigungsrede angesichts des nach-konterrevolutionären Desasters in der revolutionären Arbeiterbewegung, und der Existenz von „Schrumpf-KPen” in den wichtigsten imperialistischen Staaten nach 1989/90, etwas pikiert fragen, was das denn nun solle. Was meinte Lukács mit „Aktualität der Revolution”? Und was soll uns das hier und heute sagen? Weit und breit ist im wiedervereinigten Deutschland von „Revolution” nichts zu hören und zu spüren. Bis auf ein paar – manchmal klamaukig anmutende – „revolutionäre” 1.-Mai-Demonstrationen ist eher von Lethargie, Angst und Frust als von „Revolution” die Rede.
Lukács schrieb bemerkenswert aktuell klingende Sätze zu dem, was man auch unter Marxisten landläufig als „Revolution” ansieht: „ (…) für die Durchschnittsmenschen wird die proletarische Revolution erst sichtbar, wenn die Arbeitermassen bereits kämpfend auf den Barrikaden stehen. Und falls diese Durchschnittsmenschen auch noch eine vulgärmarxistische Bildung genossen haben – sogar dann nicht.
Denn in den Augen des Vulgärmarxisten sind die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft so unerschütterlich fest, dass er selbst in den Momenten ihrer sichtbarsten Erschütterung nur die Widerkehr ihres ,normalen’ Zustandes herbeiwünscht, in ihren Krisen vorübergehende Episoden erblickt und einen Kampf selbst in solchen Zeiten als das unvernünftige Sich-Auflehnen Leichtfertiger gegen den dennoch unbesiegbaren Kapitalismus betrachtet. Die Barrikadenkämpfer erscheinen ihm also als Verirrte; die niedergeworfene Revolution als ,Fehler’; und die Aufbauer des Sozialismus in einer Revolution, die – in den Augen des Opportunismus unmöglich anders als vorübergehend – siegreich war, sogar als Verbrecher.” (4)
Lenin hat nach Lukács in diesem Punkt „die Reinheit der Marxschen Lehre wiederhergestellt” (5), weil die Revolution für ihn nicht eine leere Parole blieb und er die Kühnheit besaß, in einer Phase des absoluten Niedergangs der sich über Jahrzehnte als „revolutionär und marxistisch” verstehenden Arbeiterbewegung die ursprünglichen Ideen von Marx und Engels von allen Verfälschungen und Revisionismen zu befreien und in ihrer ursprünglichen Einfachheit und Klarheit wieder zu aktuellen Kampfesorientierungen zu nutzen und wiederzubeleben. Die revolutionäre Theorie als Anleitung zum revolutionärem Handeln zu nutzen und nicht als unverbindliche akademische Schnörkel und seminarmarxistische Floskel – das ist und bedeutet Lenin zuallererst.
Die Frage der Notwendigkeit und Aktualität der Konzeption des revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus stellt sich heute nicht anders als zu Lenins Zeiten. Die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, die im vergangenen Jahrhundert zu zwei Weltkriegen und Dutzenden von regionalen Kriegen, zu Revolutionen und Konterrevolutionen geführt haben, sind nach dem Ende der Sowjetunion, anders als so mancher damals verkündete, nicht außer Kraft gesetzt worden.
Das lauthals proklamierte „Ende der Geschichte” hat nicht stattgefunden. Im Gegenteil. Bis ins liberale Bürgertum hat die Parole des französischen Ex-Diplomaten und früheren Mitglieds der französischen Résistance Stephane Hessel Widerhall gefunden: „Entrüstet Euch!” Verbale Kapitalismuskritik – in diversen Abstufungen von Klarheit und politischer Bewusstheit – ist mittlerweile so weit verbreitet, dass sie fast schon wieder unpolitisch zu werden scheint. Man kann über „das Finanzkapital” schimpfen und die UNESCO kann das „Kommunistische Manifest” zum weltweiten Kulturerbe erklären, so selbstverständlich (und so nichtssagend und konsequenzlos) kann heutzutage antikapitalistische Rhetorik sein, für die man vor 30 Jahren noch Berufsverbot hätte rechnen müssen.
Wenn diese gegenwärtige Welle von Kritik aber in nichts anderes einmündet als in die Wiederbelebung alter sozialdemokratischer „wirtschaftsdemokratischer” Reformvorschläge oder eine x-te Auflage der vom klassischen Reformismus inspirierten „Transformationskonzeptionen”, die sich um die Machtfrage, um die klassenmäßigen Beurteilung der Staatsfrage und die Frage nach dem Gebrauch auch von revolutionären Mitteln und Methoden bei der Eroberung und Verteidigung der Macht herumdrückt, dann wird ihr das gleiche Schicksal drohen wie vielen anderen systemkritischen Aufwallungen der 2. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Sie wird integriert und verpufft.
2. Bindeglied: die Leninsche Imperialismustheorie
Die seit den 90ger Jahren weltweit geführt Debatte um die sogenannte “Globalisierung” und „Neo-Liberalismus” hat den „Ökonomen” Marx, den Verfasser des „Kapital” und Co-Autor des „Kommunistischen Manifests”, in dem schon 150 Jahre vorher eigentlich alles Wichtige über den Weltmarkt und die Verknüpfung zwischen den nationalen Märkten und der kosmopolitisch ausgerichteten kapitalistischen Produktionsweise gesagt wurde, sogar auf die Titelblätter auflagenstarker Zeitschriften und Zeitungen gebracht. An ihm, dem „Ökonomen”, wie er positiv bewertet wird, kommt man eben nicht vorbei. Ähnlich erging es in einigen aufgeklärten bürgerlichen Zeitungen auch dem „Ökonomen und Imperialismus-Forscher” Lenin.
Er wird und wurde ja sogar wegen der theoretischen Tiefe seiner Imperialismus-Analyse und der Klarheit seiner damit verbundenen Terminologie teilweise ja besonders gelobt. Die „Zeit” hob vor Jahren in einer Serie über bekannte Ökonomen einmal hervor, dass er derjenige sei, der „Tacheles” rede, wenn er über den Kapitalismus und Imperialismus spricht.
Doch es geht sowohl bei Marx als auch bei Lenin um mehr als um ihre theoretische Klarheit bei der Analyse ökonomischer Prozesse des modernen Kapitalismus-Imperialismus. Es geht um ein dialektisches Geschichtsverständnis, das sowohl ökonomistischen Determinismus wie subjektiven Voluntarismus in der Bewertung von Möglichkeiten und Potenzen der grundlegenden Gesellschaftsveränderung vermeidet.
Nie ging es ihm um politökonomisches „Wissen an sich” oder um einen abstrakten Wissenschafts- und Methodenpluralismus. Lenins Fähigkeiten, seine Begabung, seine wissenschaftliche und organisatorische Kompetenz dienten einem klaren, einem einzigen Ziel: Beendigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen durch den entschiedenen, unversöhnlichen und revolutionären Bruch mit dem System, das diese Ausbeutung hervorbringt und immer wieder neu hervorbringt: den Kapitalismus. Keine Vertröstung auf den St. Nimmerleinstag, sondern Suche nach Wegen des „Herankommens und der Übergänge zum Sozialismus” auch in Phasen, wo andere nur die allernächste Reformetappe vor Augen hatten oder sich im Wust von Tagespolitik verfransten.
„Das erfordert auch die Bereitschaft “das eigene Wissen zu mehren” (Hans Heinz Holz, Zur Lage der Partei). In der DKP wird darüber diskutiert, ob das Neue, das der gegenwärtige Kapitalismus an Krisenerscheinungen zeitigt, mit unseren bisherigen Analysen und Begrifflichkeiten ausreichend erfasst wird.
So hieß es 2010 auf einer PV-Tagung im Referat von Leo Mayer: „Wir treten jetzt wieder in eine Phase der krisenhaften Restrukturierung des Kapitalismus ein. Diese Situation ist mit großen Gefahren, aber auch Möglichkeiten verbunden. Wir müssen uns auf das Neue einstellen, auf das Neue vorbereiten, um für die Veränderung kämpfen zu können.
Und in neuen Zeiten ist es auch notwendig ,neue Worte für die altbekannten Sachen zu finden’ (Rosa Luxemburg). Noch mehr gilt das, wenn es nicht nur um neue Worte geht, sondern auch um neue Sachen.”
An diesen Positionen ist natürlich einiges richtig und selbstverständlich. Ich denke aber, dass das im Moment noch nicht Erkannte oder Bekannte nur dann als „neu” definiert werden kann, wenn man die Qualität dieses Neuen abgleicht mit dem, was man dann anschließend als das „Alte” bezeichnet.
Als „neu” kann ja nur etwas definiert werden, wenn man dem Vergleich mit dem „Bisherigen” angestellt hat. Das gilt auch für die Theorie des modernen Kapitalismus.
In der DKP wurde in den Jahren vor dem letzten, dem 20. Parteitag, jedoch viel zu vieles als „neu” interpretiert, was es substantiell gar nicht war.
Neue Erscheinungsformen des Kapitalismus – die „Globalisierung”, der „finanzmarktgetriebene Kapitalismus” oder der „Neoliberalismus”, wurden zu neuen qualitativen Stufen in der Entwicklung des Kapitalismus erhöht, dem der angeblich „erstarrte Marxismus-Leninismus” nicht mehr theoretisch Herr werden könne. Der in der DKP dafür auf die Spitze getriebene gedankliche Bruch und zugleich Kniefall vor dem Pseudomarxismus des „demokratischen Sozialismus” gipfelte in der Vorstellung der „Thesen des Sekretariats” von Anfang 2010.
Der Marxismus-Leninismus, die marxistische Gesellschaftstheorie fordert dazu auf, weder „die” Gesellschaft noch „den” Kapitalismus nur ganz allgemein zu erfassen und zu beschreiben. Wir können die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft nicht erkennen, wenn wir nur von einer allgemeinen Theorie des Kapitalismus sprechen. Wir müssen wissen, wie der Kapitalismus sich in einem konkreten Land, in einer konkreten historischen Situation entwickelt.
Marxistische und leninistische Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus-Imperialismus erfordert mehr als nur die Benennung allgemeiner Merkmale, wie des „Privatbesitzes an den Produktionsmitteln”, der „privaten Aneignung des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts “, „Monopolbildung”, „aggressives Wesen des Imperialismus”, etc. – so unverzichtbar diese Merkmale auch sind. Das gilt auch für unsere heutige Impertalismus-Analyse.
Exkurs 2:
Lenin über die „Marxsche Methode” und über die Typisierung des Imperialismus
Es zeichnet gerade die wissenschaftliche Arbeit und Methodik Lenins aus, dass dieser sich mit der gründlichen Aneignung und dem intensiven Studium des von Marx und Engels hinterlassenen theoretischen Erbes gleichzeitig daran machte, die damalige Wirklichkeit des russischen Kapitalismus gründlichst, gestützt auf Hunderte von amtlichen Statistiken, Tabellen, Regierungsberichten, Dutzenden von Studien bürgerlicher Ökonomen und Soziologen, zu analysieren.
Dafür stehen solche von Lenin verfassten Bücher wie „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland” (in Werke Band 3), „Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik” (in Werke Band 2) und umfangreichen Broschüren wie „Neue wirtschaftliche Vorgänge im bäuerlichen Leben”, „Zur sogenannten Frage der Märkte”,, „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung”, „Was sind die Volksfreunde” (alle publiziert in Werke Band 1).
Was für die Anfangszeit der Publizistik des jungen Lenin gilt, gilt auch für die Publizistik des „reifen”. Allein für die Ausarbeitung seiner bekanntesten Imperialismus-Studie („Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus”) verarbeitete Lenin Analysen und Daten aus 148 Büchern und 232 Artikeln aus 49 verschiedenen Druckschriften.
In der wissenschaftlich hoch anspruchsvollen Debatte mit den Theoretikern der damals größten sich am Marxismus orientierenden Partei, den „Sozialrevolutionären” über die Perspektive der Entwicklung des Kapitalismus in Russland legte Lenin großen Wert darauf, die „Modifikationen” der von Marx und Engels erfassten „Gesetzmäßigkeiten” des Kapitalismus zu erfassen, um dann auch zu einer realistischen Strategie und Taktik für die Bolschewiki gegenüber den breiten Massen der Bauernschaft zu kommen.
Denn gerade diese Unterscheidung von „verschiedenen Typen” des Kapitalismus war und ist ausschlaggebend für die Strategie und Taktik der Kommunisten.
„Es gibt Kapitalismus und Kapitalismus”, so schrieb Lenin damals auch an den mit den Sozialrevolutionären sympathisierenden großen Dichter Maxim Gorki. „Es gibt den Kapitalisten der Oktobristen und Schwarzhunderter (gemeint sind die damaligen ultrakonservativen Kräfte, HPB), und es gibt den Volkstümler-Kapitalismus (den ,realistischen, demokratischen’, voller ,Aktivität’). Je mehr wir den Kapitalismus vor den Arbeitern der ,Habgier und Grausamkeit’ überführen , umso schwerer wird sich der Kapitalismus der ersten Art halten können, umso sicherer ist sein Übergang zum Kapitalismus der zweiten Art. Das aber kommt uns, kommt dem Proletariat entgegen.” (6)
Die Unterscheidung unterschiedlicher Kapitalismus-Typen war also nicht eine rein theoretische Angelegenheit, die ohne praktische Bedeutung für die Politik der Kommunistischen Partei und die Lage der Arbeiterklasse wäre. Im Gegenteil: die Frage welche Entwicklungsvariante des Kapitalismus von der Ausbeuteklasse gerade praktiziert oder favorisiert wird, wirkt sich unmittelbar auf die Lebens- die Kampfbedingungen der werktätigen Klassen und Schichten aus.
Entscheidend für die revolutionäre Partei ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass sie keine reformistischen Illusionen aufsitzt, die sich mit einer „weicheren” oder „sozialeren” Kapitalismusvariante leichter aufdrängen. Dies ist aber kein grundsätzlich neues Problem. Die Dialektik von Reform und Revolution zu beachten und die „Grenzen der Reformierbarkeit” des Kapitalismus zu bedenken und zu vermitteln, ist quasi ein Stück „trockenes Brot”, ein Grundsatz .der immer zu berücksichtigen sein wird.
Ebenso gibt es diverse Modifikationen und Entwicklungsvarianten auch des Kapitalismus in seinem imperialistischen und auch in seinem staatsmonopolistischen Stadium.
Grundsätzlich lasen sich drei Modifikationstypen des Kapitalismus-Imperialismus unterscheiden:
Erstens: Modifikationen, die sich ergeben aus den verschiedenen Evolutionsstufen, Stadien, Etappen und Phasen des Kapitalismus, die zu qualitativen Veränderungen und Verschärfungen der für ihn typischen allgemeinen Merkmale führen; z.B. der Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus/Imperialismus.
Zweitens: Modifikationen, die nationalen Entwicklungsunterschieden, dem unterschiedlichen Tempo in der Produktivkraftentwicklung, der unterschiedlichen Dynamik bei der Eroberung und Behauptung von Macht- und Marktanteilen auf dem Weltmarkt geschuldet sind. Lenin unterschied daher auch zwischen verschiedenen nationalen „Imperialismen” seiner Zeit, wie etwa dem damals besonders „räuberischen” französischen Imperialismus, dem „junkerlich-bourgeoisen” deutschen Imperialismus und dem besonders „kolonialistischen” englischen Imperialismus. Nach dem 1. Weltkrieg beobachtete er besonders sorgfältig die Entwicklung des „dynamischen” und „jungen” US-Imperialismus, der begann, der britischen Vorherrschaft ein Ende zu setzen.
Auf diese Differenziertheit in der Ausprägung der Typologie des Imperialismus zielt auch der Lenin-Satz: „Wir sind der Meinung, dass es für die russischen Sozialisten besonders notwendig ist, die Theorie von Marx selbständig weiterzuentwickeln, denn diese Theorie liefert lediglich die allgemeinen Leitsätze, die im einzelnen auf England anders angewandt werden als auf Frankreich, auf Frankreich anders als auf Deutschland, Deutschland anders als auf Russland.” (7)
Drittens: Modifikationen des Kapitalismus-Imperialismus innerhalb ein und derselben Etappe bzw. des Kapitalismus, die keine nationale Besonderheit darstellen, sondern in unterschiedlichen Ländern auftreten.
Lenin machte seinerzeit den Sozialrevolutionären gegenüber deutlich, dass es nicht ausreiche, nur zu konstatieren, dass es eine kapitalistische Entwicklung in Russland gebe, sondern darum, was für ein Typus, welche Variante des Kapitalismus sich in diesem Land entwickelte:
„ … auf der Tagesordnung steht eine andere Frage, eine Frage höherer Ordnung: ob Kapitalismus vom Typ a oder Kapitalismus vom Typ b?” (8)
Unter „Typ a“ verstand Lenin damals die Entwicklung des Kapitalismus auf dem Lande nach dem preußisch-junkerlichen Vorbild oder nach dem US-amerikanischen Großfarm-Modell („Typ b”). (Literaturhinweis: H. Petrak: Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Kampfkonzeption der Arbeiterklasse, Hrsg. Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1989)
Und damit komme ich zum nächsten Verbindungsglied zwischen Marx und Lenin.
3. Verbindungsglied: Die Leninsche Revolutionstheorie.
Der unter Mussolini jahrelang inhaftierte italienische Kommunist und Theoretiker Antonio Gramsci schrieb dazu:
„Indem er die von Marx entwickelte Methode anwendet, findet Lenin, dass die tiefe und unüberwindliche Kluft, die der Kapitalismus zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie geschlagen hat, und der ständig wachsende Antagonismus der beiden Klassen die Wirklichkeit sind. Bei der Erklärung der sozialen und politischen Phänomene und bei der Festlegung des Weges der Partei in allen ihren Lebensphasen verlor er niemals die mächtigste Triebkraft aller ökonomischen und politischen Aktivität aus den Augen: den Klassenkampf.” (9)
Die Herausforderungen, vor denen die arbeitenden und lohnabhängig beschäftigten Menschen nicht nur in unserem Land, sondern weltweit stehen, waren noch nie so gewaltig. Ich erspare dem Leser eine lange detaillierte Auflistung dieser Probleme.
Viele Ökonomen sagten vor der akuten Krise des kapitalistischen Währungs- und Finanzsystems: Wir stehen inmitten einer „5. Welle der Industriellen Revolution”, die zu immer neuen technologischen Durchbrüchen führt, an deren Ende eine zunehmende Entwertung der Rolle der menschlichen Arbeitskraft für das Bestehen der kapitalistischen Ökonomie steht.
Dies führt unter kapitalistischen Bedingungen zur massenhaften Entwertung auch hochqualifizierter Arbeitskraft, zur Stilllegung wichtiger traditioneller Branchen, von denen ganze Regionen und Volkswirtschaften abhängen, zur Revolutionierung aller bisher bekannten Kommunikationsmethoden und -wege (die „Datenautobahnen”), zu völlig neuen Produktionsmethoden – und im Gefolge dieser Umwälzungen zu millionenfacher Arbeitslosigkeit.
Unter dem Stichwort „Deregulierung” ging es in fast allen hochentwickelten kapitalistischen Staaten im Kern um eines: die Niederlage des realen Sozialismus sollte so ausgeschlachtet werden, dass soziale Zugeständnisse, die dem staatsmonopolistischen Kapitalismus in Jahrzehnten durch die Arbeiterbewegung abgetrotzt werden konnten, rückgängig gemacht werden. Die sozialen Sicherungssysteme, seien es Rentensysteme, seien es Krankenversorgung, Arbeitslosenversicherung oder Sozialhilfemaßnahmen, werden rigoros beschnitten.
Nach Möglichkeit sollte der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung auch in den reichsten kapitalistischen Staaten auf ein deutlich niedrigeres Niveau herabgesenkt werden.
Ein gigantischer Umverteilungsprozess des gesamtgesellschaftlich erarbeiteten Sozialprodukts zugunsten der Großbourgeoisie und der Monopole wurde durchgesetzt. Damit kam es zur Ausprägung einiger neuer Merkmale des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Die bisherige Variante des staatsmonopolistischen Kapitalismus vor 1989 mit relativ starkem staatlichen Eigentum an Produktionsmitteln und Elementen des „Sozialstaats” wich einer anderen Entwicklungsvariante.
Dieser Prozess hatte zwar bereits in den USA und in Großbritannien in den frühen 80er Jahren begonnen. Er war unter den Stichworten „Reaganomics” bzw. „Thatcherismus” vertraut. Er gewann seit dem Scheitern des realen Sozialismus jedoch eine neue Dynamik.
Unter Marxisten wurde heftig darüber diskutiert, ob sich damit eine neuen Entwicklungsphase des Kapitalismus ergibt, den man als „Neoliberalismus” zu bezeichnen habe.
Mit Recht wurde von HH Holz und anderen (darunter auch der Autor dieses Beitrags) darauf hingewiesen, dass die pauschale Benutzung des Begriffs „Neo-Liberalismus” objektiv der Versuch sei, damit den Begriff „Imperialismus“ zu ersetzen.
Heute geht die Diskussion aber schon wieder in eine andere Richtung – so ging es schon auf dem großen attac-Kapitalismus-Kongress in 2009 um die Frage , ob die neue Entwicklung seit der Finanzkrise von Herbst 2008 als „Post-„Neoliberalismus” bezeichnet werden müsse.
Die Brüchigkeit und Beliebigkeit dieses Begriffs in der gegenwärtigen kapitalismustheoretische Debatte hatte Hans Heinz Holz auf einem Hearing des Parteivorstands der DKP im Jahre 1996 kurz und bündig damit so begründet: Bei dem damaligen (und gegenwärtigen) inflationären Gebrauch des Begriffs „Neo-Liberalismus” handele es sich um eine „Falschmünzerei im Begriff”.
Wie dem auch sei, auch diese Elemente innerhalb des staatsmonopolistischen Kapitalismus änderten nichts an seinem Grundstrukturen und den Zielen bürgerlicher Politik. Es geht immer um eines: die „Standortvorteile” für die nationalen und/oder internationalen Konzerne sollen dadurch verbessert werden.
Die Orientierung heißt jedoch nicht erst seit Ende letzten Jahrhunderts „fit sein für den Weltmarkt”. Das Kommunistische Manifest beschrieb in kräftiger und bildhafter Sprache bereits die „Kosmopolisierung” und Weltmarktorientierung der kapitalistischen Produktionsweise.
Und Lenin verwies 70 Jahre später in seiner Imperialismusstudie auf die „Internationalisierung des Kapitals” und sah darin eines der Hauptmerkmale des modernen Monopolkapitalismus. Der Kampf um die – wie Lenin sagte – „unvermeidliche Neuaufteilung” der Welt ist typisch für die ganze Epoche des Imperialismus. Er hat sich nach der Niederlage des realen Sozialismus jedoch in unvorhersehbarem Ausmaße verschärft.
von Dr. Hans-Peter Brenner
Stellv. Vors. der DKP
Es folgt Teil 2:
Die Grundlagen Leninscher Strategie. Haltloser Pragmatismus ohne wissenschaftliche Fundierung?
(1) Wolkogonow, Dimitri: Stalin. Triumph und Tragödie, Wien u.a. 1989
(2) Wolkogonow, D.: Lenin: Utopie und Terror, Düsseldorf-Wien-NewYork, Moskau, 1994
(3) Georg Lukàcs: Lenin, Neuwied/Berlin, 1967, S.8 f.
(4) Ders.: a.a.O. ,S. 9
(5) Ders.: a.a.O., S. 10
(6) W. I. Lenin: An A. M. Gorki. In Werke Bd. 34, S. 435
(7) W. I. Lenin: Unser Programm, In Werke Bd. 4, S. 206
(8) W. I. Lenin: Brief an Skworzow-Stepanow. In: Werke, Bd.16, S. 112
(9) Gramsci, Antonio: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S. 24 f.