Wider die Zerstörung der Kultur
Werner Seppmann
Julia Sastra (im folgenden JS) hat in ihrem Beitrag in der UZ am 4. April 2008 wichtige Fragen aufgeworfen. Es würde leichter fallen, produktiv darüber zu debattieren, wenn sie (m)eine tatsächliche oder vermeintliche “Gegenposition” über alle argumentationsstrategische Notwendigkeit hinaus, nicht nur bedenkenlos verkürzt, sondern an entscheidenden Stellen auch in manipulativer Absicht entstellt hätte.
Bevor ich auf den diskussionswürdigen Kern ihrer Argumentation überhaupt eingehen kann, ist es notwendig, ihre unproduktive Vorgehensweise zumindest an einigen Beispielen zu dokumentieren. Auf absurde Behauptungen des Kalibers, dass Plakate keine Kunst sein können, oder die Künstler innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft den bürgerlichen Horizont zu überschreiten strukturell nicht in der Lage seien, kann ich aus Platzgründen nicht eingehen.
Keine Regel ohne Ausnahme
Zentral wirft JS mir vor, bei der Beschäftigung mit der Documenta 12 in der jungen Welt (4. und 5. 9. 2007) wie üblich, die zeitgenössische Kunstproduktion nur “eintönig schwarz” gemalt zu haben: “Die wenigen kritischen Werke ignorierte oder verriss er.” Der Einfachheit halber schauen wir uns einfach an, was ich tatsächlich geschrieben habe: “Es gibt bemerkenswerte Ausnahmen – wie bisher auf jeder Documenta. Diesmal ist es u.a. eine Kollage von CK Rajan, die auf Schwarze einprügelnde weiße Polizisten zeigt. Jedoch wird einer möglichen progressive Wirkung, sofort ein interpretatorischer Riegel vorgeschoben:
Nach dem Katalog-Verständnis soll die Rajan-Darstellung ‚eine visuelle Welt´ thematisieren, die ‚nicht mehr Intelligibel´, also allgemein vermittelbar und verständlich sei. Auch die Thematisierung des Skandalösen soll auf einen (bestenfalls) subjektivistischen Wahrnehmungsmodus reduziert werden.” JS mag mit meiner Auswahl nicht einverstanden sein und es für inakzeptabel halten, dass ich die Funktionalisierung dieser kritischen Kunst zu einem Feigenblatt für die insgesamt manipulative Ausstellungsstrategie angesprochen habe, aber das rechtfertigt keineswegs ihren Ignoranz-Vorwurf!
Halten wir jedoch fest, dass auch JS den Ausnahmestatus kritischer Kunst auf der Documenta anerkennt. Um so verwunderlicher muß es wirken, dass sie diesen Masterschauen des Modernismus (die Documenten sind nur die Spitze eines Eisberges der herrschaftskonformen Kunstselektion und -zelebrierung) der Linken als positiven Bezugspunkt nahe legt. Sinn macht das nur, wenn man sich in dem dichten Netzen der herrschenden Kunstdoktrinen schon hoffnungslos verfangen hat und den Lebenslügen des ästhetischen Modernismus in seiner gegenwärtigen kultur-bürokratischen Überformung leichtfertig für bare Münze nimmt.
Um bei der letzten Documenta zu bleiben: Trifft es zu, dass die großformatigen Stoffkollagen Abdoulayes Konaté, die an einen Blick in einen Altkleider-Container erinnern, in einer hinreichenden Weise – wie der Ausstellungskatalog behauptet – die “aktuellen Probleme wie die Aids-Epedemie oder Dürrekatostrophen in der Sahelzone” thematisieren? Ich habe das nicht als zwingendes Ergebnis dieser ästhetischen Gestaltungen erkennen können.
Lüge und Kritik
Im Zusammenhang ihrer Behauptung einer undifferenzierten Schwarzmalerei, wirft mir JS auf der Basis einer zum methodischen Prinzip erhobenen Entstellung der Sachverhalte weiter vor, bei meiner Beschäftigung mit der Documenta 12, die dort präsentierten Arbeiten des Spaniers Mangla-Ovalle “nicht erwähnt” zu haben. Eigentlich eine zu klare Feststellung, um mir exakt 5 (!) Zeilen weiter vorzuhalten, das Werk “Phantom Truck”, eben jenes angeblich von mir ignorierten Künstlers kritisiert zu haben. Um Klarheit in unsere Auseinandersetzung zu bringen scheint es sinnvoll, dieses Kunstwerk etwas genauer anzuschauen.
Ich hatte in meinem Beitrag geschrieben, dass fast alle auf der Documenta präsentierten “politischen” Arrangements recht hilflos, gegenüber den angesprochenen Sachverhalten wirkten: “Deutlich wird das bei der präsentierten Stilisierung jenes LKW´s, mit einem angeblich mobilen Labor zur Herstellung biologischer Waffen, dessen Bild der US-Außenminister der UN vorlegte, um den Feldzug gegen den Irak zu legitimieren.
Denn es wird durch diese ‚Rekonstruktion´ nicht mehr zum Ausdruck gebracht, als ohnehin schon bekannt ist. Solche künstlerischen ‚Problematisierungen´ sind medialen Manipulationsformen zum Verwechseln ähnlich: Weder Prozesse werden dokumentiert, noch Zusammenhänge thematisiert, sondern eine isolierte ‚Faktizität´ abgebildet. Verwiesen wird auf einen symbolischen Fixpunkt, das Wesentliche (beispielsweise, dass der ‚Kampf gegen den Terrorismus´ die Funktion eines Ressourcenkrieges hat) jedoch verschwiegen”.
Was macht JS aus dieser Aussage? Sie unterstellt mir, dass ich die Betrachter offensichtlich für “zu blöd” halte, “diese Zusammenhängen selbst herzustellen”. Tatsächlich hatte ich durchaus die Existenz eines verbreiteten Wissen über die politischen Manipulationen vorausgesetzt. Auch Leser der bürgerlichen Presse wissen, dass die Kriegstreiber in der US-Administration gelogen und betrogen haben, um ihre Aggression zu legitimieren. An dieses Niveau des Alltagswissens – so unterstreiche ich – schließt diese “Installation” (die selbst kaum mehr als eine solide “Bastelarbeit” darstellt) an – und beschränkt sich auch darauf!
Das scheint übrigens auch JS nicht anders zu sehen, denn sie äußert die Hoffnung, dass die Rezipienten selbst die “Zusammenhänge” erkennen würden (diese also durch das Kunstwerk nicht herausgearbeitet würden), weil sie offensichtlich ausreichende “Kenntnisse über die Ursachen des Irak-Krieges” besäßen. Aber ist das tatsächlich der Fall? Das Alltagsbewusstsein registriert zwar durchaus Momente des Kritikwürdigen.
Ihre In-Bezug-Setzung zu anderen Faktoren, die Erkenntnis des Zusammenhangs wird jedoch durch seine isolierende Funktionsweise erschwert. Es entsteht im Alltag auf spontane Weise Wut und Misstrauen, aber noch kein handlungsrelevantes kritisches Wissen. All das bedeutet natürlich nicht, dass es keinen Sinn machen würde, sich mit solch reduktionistischen Thematisierungen wie dem “Phantom Truck” auseinander zu setzen. Ein überzeugendes Beispiel für eine alternative Kunst ist er nach meinem Verständnis jedoch nicht.
Anspruch und Wirklichkeit
Zu zeigen, dass die “avantgardistischen” (oft auch “subversiven”) Selbstzurechnungen und die ästhetische Gestaltungswirklichkeit weit auseinanderliegen, ist in wiederholten Versuchen die Grundabsicht meiner Beschäftigung mit den offiziösen Kunst-Vermittlungsapparaten gewesen. In ideologiekritischer Hinsicht sind meine Analysen eindeutig ausgefallen: In der Hauptsache werden Werke der Beliebigkeit und Belanglosigkeit präsentiert. Und es wurden und werden intensive organisatorische Anstrengungen unternommen, um ihre Monopolstellung zu sichern. Die durchaus vorhandenen Ausnahmen bestätigen nur diese Regel.
Deshalb ist es müßig, vorrangig dort nach Beispielen gehaltvoller Kunst zu suchen. In diesen Irrgärten pseudo-ästhetischer Selbstgefälligkeit sind nicht ins Konzept passende Künstler selbst von epochalen Rang wie Bernhard Heisig, Alfred Hrdlicka oder (um auch einen bedeutenden bürgerlichen Gegenwartskünstler zu nennen) Lucien Freud nicht vertreten. “Junge Kunst” die sich den restriktiven Vorgaben nicht unterwirft, hat kaum Chancen “erwählt” zu werden.
Übrigens habe ich zunächst keine “externen” Maßstäbe an die präsentierte Kunst herangetragen, sondern sie immer nach den “Verwirklichungsgrad” ihrer eigenen Ansprüche befragt. Bei solch einer Konfrontation wird schnell deutlich, dass der allergrößte Teil des kulturbürokratisch legitimierten Modernismus trotz anderslautender Relevanzansprüche zur Desorientierung führt und in seiner Grundtendenz geeignet ist, eine konkurrenzgesellschaftlich verursachte emotionale Abstumpfung und einen intellektuellen Fatalismus zu komplettieren.
Darüber hinaus werden vermittelst des Spiels mit absurden Konstellationen die Kunstrezipienten mit der realen Absurdität spätkapitalistischer Gesellschaften “versöhnt”. “Mustergültig” hat das der polnische Künstler Monastyrski auf der Documenta geleistet. Sein Objekt mit dem Titel “Goethe”, bestand aus einem auf einen Brett montierten Klingeknopf, unter dem ein Schild mit der Aufforderung “Knopf drücken” montiert war.
Für die “Unwissenden” bot der Katalog eine “profunde” Interpretation an: “Mit Hilfe des Titels ‚Goethe´ führt der Künstler den Unterschied zwischen ‚Gegenwart´ und unserer Zeit (‚Postgegenwart´) ein und erweitert so den Sinn dieser interaktiven Komposition. Der Geist der ‚Gegenwart´ ist … romantisch, während die Zeit, in der wir heute leben, eher an die Klassik erinnert.”
Für JS mögen sich solche “Bedeutungsdimensionen” vielleicht erschließen, hat sie uns doch schon einmal bei anderer Gelegenheit versichert, dass auf dem Nürnberger Marktplatz aufgeschichtete Sitzschalen aus dem Berliner Olympiastadion, auch an die Kämpfe der Bauern im 16. Jahrhundert erinnern würden. Wer nicht mit solchen Assoziationsfähigkeiten gesegnet ist, wird die Frage nach der materiellen Verankerung solcher “Sinndimension” im Kunstwerk stellen.
Um jedoch einer kritischen Thematisierung des oft unüberbrückbaren Grabens zwischen formulierter Absicht und Werkrealität einen Riegel vorzuschieben, haben die konzeptionellen Ideologen des kultur-bürokratischen Konplexes ein dichtes Netz von Tabus gewoben: “Die Kunst darf alles in Frage stellen, doch Fragen an das Kunstsystem gelten als unstatthaft. Schnell wird der Kritiker als Feind des Zeitgenössischen ins dunkle Eck gedrängt. Die Ängste und Immunisierungsmechanismen sind gewaltig, die Denkverbote unerbittlich.” (H. Rauterberg)
Aus ihrer Sicht haben die Organisatoren der herrschenden Kunst-Events mit ihren ideologischen Abwehrmanövern natürlich recht. Zu viele der Kunst-Kaiser sind nackt, so dass schon eine schüchterne Thematisierung der “Kleiderfrage” entlarvende Wirkungen haben könnte. Denn was in den offiziösen Präsentationen der Gegenwartskunst in der Regel gezeigt wird, entstammt zu größten Teilen dem Arsenal einer Kunstszene, die von Neuauflagen tradierter Stile, von Kombinationen aus Neo-Dadaismus, Neo-Konstruktivismus und Neo-Expressionismus lebt.
Trotz eines demonstrativen Innovationsanspruchs dreht sich der Modernismus im Kreis; Ritualisierung und ein vordergründiger “Konstruktivismus”, mit der Tendenz zur Banalisierung inhaltlicher Problemstellungen, hat schöpferische Gestaltung weitgehend verdrängt. In welchem Maße das geschieht, wird auch an den Werken jener Künstlers deutlich, den uns JS ans Herz legen möchte.
Fatalismus und Zynismus
Jedoch verrät sie den mit den Geheimnissen der Modernismus-Szene nicht vertrauten Leserrinnen und Leser mit keinem Wort, was er sich unter den “Aktionen Santiago Sierras, in denen er die Wirklichkeit als so hässlich vorführt wie sie ist”, vorzustellen hätte. Deshalb soll das von JS versäumte nachgeholt werden, damit wenigstens in Umrissen klar wird, worüber wir debattieren: Sierra ließ beispielsweise in Hannover, Schlamm aus einem im Rahmen von NS-Arbeitsdiensten entstandenen Tümpel ins Museum schleppen, um an das Problem der Zwangsarbeit zu erinnern.
Wie so oft bei seinen Aktionen, wurde die Arbeit von Ein-Euro-Zwangsverpflichteten durchgeführt. Aus finanziell Minderbemittelten rekrutierten sich auch die Akteure eines “Projektes” auf der Bienale 2001 in Venedig, das sich angeblich “mit den globalen Flüchtlingsströmen” beschäftigte. Wie löste Sierra diese selbstgestellte Aufgabe, die gemäß eines Kommentars im Geist der kunst-bürokratischen Phraseologie als “listige Attacke auf das Gesellschaftsgefüge”, verstanden werden sollte?
Durch eine Zur-Schau-Stellung farbiger Menschen mit weiß gefärbten Haaren. Jeder mag selbst entscheiden, ob es sich bei diesen ästhetisierenden Arrangements um Beispiele von “Mut und Wahrheitsliebe” handelt, wie JS meint, und sie für den Betrachter für die drängenden Gegenwartsprobleme “sensibilisieren” können. Ich denke, dass solche “Thematisierungen” vor allen Dingen niemanden weh tuen, es ist ein recht banales Hofnarrentum, mit dem die herrschenden Klassen aller Länder gut leben können. Denn sie verbleiben auf der Oberfläche der Probleme, stellen nicht selten einen Frontalangriff auf die Kultur des Erinnerns und der Selbstvergewisserung dar. Man könnte sie auch als Ausdruck eines grenzenlosen Zynismus interpretieren.
Die geplante museale Präsentation eines Sterbenden wäre nür die konsequente Fortsetzung dieses Weges. Objektiv sind diese Entwicklungen Ausdruck jenes “Vandalismus der bürgerlichen Reaktion” in der Kultur, von der Rosa Luxemburg gesprochen und Symptome eines (keineswegs mehr nur) schleichenden Verfalls, auf den Lenin hingewiesen hat.
Es ist gerade die sogenannte “kritische”, “intensive” und “problemorientierte” Kunst, die sich eines Formenspektrums bedient, dass der Gesellschaft der Zerstörung und der zivilisatorischen Regression deshalb entspricht, weil sie diesen Tendenzen nicht widerspricht. Für die herrschenden Klassen in den imperialistischen Hauptländern haben ihre reduktionistischen “Problematisierungen” den gleichen Vorteil, wie die im Museum verteilten Kieselsteine oder Sandhaufen, wie die Bügeleisen in den Glasvitrinen oder das in seine Einzelteile zerlegte Auto in der Kunsthalle: Es sind Inszenierungen “die niemanden schaden, die beliebig sind und auch niemanden provozieren”, wie Willi Sitte betont hat.
Fraglich bleibt jedoch seine Hoffnung, “dass die Menschheit sich [nicht] so verblöden lässt, um auf Dauer derartiges als Kunst zu akzeptieren.” Denn durch die jahrzehntelange Wirkung des ästhetischen Reduktionismus und der kunstpolitischen Formierung, sind die Ansprüche sehr bescheiden geworden. Das zeigt ein kritischer Blick auf den zweiten Künstler, zu dessen Bewunderung JS uns verpflichten will:
Zu nicht weniger als zu einem “Monument für die Arbeiterklasse” bauscht sie die Kasseler Documenta-“Installation” Allen Sekulas auf, die knapp unterhalb des technischen Niveau der Arbeiten gymnasialer Kunst-Leistungskurse angesiedelt ist und aus einigen auf Lattengerüsten befestigten (durchaus bemerkenswerten) Arbeiterfotos und u.a. die Abbildung einer Arbeiterskulptur von Constantin Meunier besteht. Wer sich mit diesem – nach Meinung von JS “kritischem Werk” etwas näher auseinandersetzt, wird schnell erkennen, warum sie die UZ-Leser auch über dessen “Gestaltungsprinzipien” im unklaren gelassen hat.
In diesen Zusammenhang passt eine aktuelle Pressemeldung: Der soeben in Evonik umbenannten Ruhrkohle AG ist es gelungen, zwei Abraumhalden, die aufwendig hätten rekultiviert werden müssen, von einem regionalen “Kulturauschuß” zu Kunstwerken erklären zu lassen. Nun müßte nur noch jemand auf die Idee kommen, Handwerkzeug darauf zu präsentieren, um die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass die ganze Angelegenheit uns als “Denkmal der Arbeit” verkauft wird.
Realismus oder Naturalismus?
Nach Ansicht von JS haben wir es bei den Aktivitäten Sierras nicht nur mit bemerkenswerter Kunst zu tun. Der Künstler selbst, solle als “kritischer bürgerlicher Realist” angesehen werden. Jedoch selbst als Gerücht kann JS diese Klassifizierung für solchem symbolischen Aktionismus nur in Umlauf bringen, weil sie mit zentralen ästhetischen Theoremen (keinesfalls nur marxistischen!) genauso manipulativ umgeht, wie mit meinen Textpassagen. Es wirkt geradezu wie ein Versuch, den Leser hinters Licht zu führen, wenn sie mit Berufung auf Franz Mehring und Georg Lukács zunächst die Realismus-Kategorie einführt, um dann in den folgenden Ausführungen Realismus und Naturalismus als synonyme Begriffe und prinzipiell gleichwertige Gestaltungsprinzipien zu behandeln.
Wer mit diesen elementaren Begriffen jedoch systematisch so irreführend umgeht, will keine verständige Diskussion über die divergierenden Prinzipien künstlerischer Gestaltung und die Chancen progressiver Kunst, sondern eine reduktionistische Doktrin durchsetzen. Daß eine verlässliche Darstellung der ästhetischen Positionen und theoretischen Kategorien (die bei JS nur eine untergeordnete Rolle spielen) dabei nur hinderlich wären, scheint JS durchaus bewusst zu sein.
In aller gebotenen Kürze: Realismus bedeutet die künstlerische Beleuchtung aller Zusammenhänge, der Versuch durch die Gestaltung des “Typischen” das “Allgemeine” zu erfassen. Die Lebensweise eines Bürgers wird beispielsweise so dargestellt, dass seine kapitalistischen Existenzbedingungen in ihrer Gesamtheit “durchscheinen”. Auf die sozialen Momente wird jedoch nicht nur “verwiesen”, sondern sie schlagen sich in der ästhetischen Struktur nieder.
Der Realismus bemüht sich, das Gegebene als etwas in Bewegung befindliches, mit einer Herkunft (einer “Vergangenheit”) und einer auf Zukünftiges gerichteten “Tendenz” zu erfassen. Naturalistische Kunst beschränkt sich dagegen auf Momentaufnahmen. Gerade Georg Lukács hat das immer wieder nachdrücklich betont, deshalb ist es eine Frechheit, ihn für die Verteidigung des Naturalismus in Anspruch zu nehmen. In einem Punkt hat JS jedoch recht: Der Naturalismus kann, indem er das “Faktische” überspitzt, eindrucksvolle Wirkungen erzielen.
Oft geschieht das jedoch um den Preis einer Vernachlässigung von Ursachen und real existierender Gegentendenzen. Seine von Franz Mehring erhoffte (JS zitiert die entsprechenden Passage) Weiterentwicklung hat nicht stattgefunden. Auch das dürfte den Lesern, wenn man sie informieren und nicht indoktrinieren will, nicht vorenthalten werden.
Sicherlich sind Naturalismus und Realismus nicht als bloße Gegensätze zu begreifen. Sie können miteinander konfrontiert, ergänzende Wirkungen haben. Diese Chance wir jedoch verspielt, wenn JS fahrlässig die Grenzen verwischt und den Eindruck erweckt, als ob im Endeffekt Naturalismus und Realismus deckungsgleich wären.
Das Grauen als Ideologie
Die Grenzen des Naturalismus als Kunst der “Unmittelbarkeit” zeigt sich Regelmäßig bei der Thematisierung des Schreckens in der vom herrschenden Block und seinen kulturellen Apparaten geförderten Kunst. Während 2007 auf der Documenta die Menschheitsprobleme in verdaulichen Häppchen und meist trivialisierender Gestalt thematisiert wurden, wurde auf der Biennale in Venedig immerhin dokumentiert, dass sich die Welt in einem kriegerischen Ausnahmezustand befindet und welche Opfer die diversen Feldzüge kosten: Zu sehen war ein Portrait-Puzzle von im Irak getöteten US-amerikanischen Soldaten; auch die Folter – Opfer aus Abu Graib, kombiniert mit Höllenbilder alter Meister, wurden thematisiert.
Jedoch wurde ebenfalls nicht deutlich, dass diese Kriege geführt werden, weil die imperialistischen Eliten die Inszenierung des Ausnahmezustandes zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft benötigen. Der Krieg und der staatliche Terror werden so vordergründig in Szene gesetzt, dass Fragen nach gesellschaftlichen Verhältnissen, die den Frieden strukturell sichern könnten, ausgeblendet blieben: Zur antizivilisatorischen Dynamik des Imperialismus scheint es nach dem Horizont dieser Kunst keine Alternative mehr zu geben. Ihre ästhetischen Formen entsprechen in der Regel den herrschenden Vorstellungen von der Zwangsläufigkeit und Unabwendbarkeit des Verfalls.
Diese Gestaltungspraxis verlangt weder “Mut”, noch ist es Ausdruck von “Wahrheitsliebe” wie JS meint, “das Vergehende zu schildern wie es ist”. Es ist vielmehr ein Grundmuster des herrschenden Denkens, die nicht mehr zu leugnenden Katastrophenentwicklungen so zu thematisieren, dass der Eindruck ihrer Unvermeidlichkeit sich festigt. Die schrille Momentaufnahme wird zu einem historischen Endzustand stilisiert. Dieser Darstellungsmodus fügt sich bruchlos in das Netz herrschender Desorientierungen ein, weil er seine Aufmerksamkeit den historischen Alternativen verweigert.
Die “Leistungsfähigkeit” der Kunst
Geradezu absurde Züge trägt eine lapidare Feststellung von JS und die an sie gekoppelte rhetorische Geste: “Sicher kann man von Kunst viel verlangen. Die Frage ist: Sind die Forderungen realistisch?” Grundsätzlich: Die marxistsiche Ästhetik “verlangt” nichts von der Kunst. Sie untersucht vielmehr, wie Kunst “funktioniert”, was ihre “Besonderheit” im sozialen und kulturellen Beziehungsgeflecht ausmacht – und zwar anhand der formalen Strukturen und inhaltlichen Leistungen aller bisher geschaffenen Kunst. Das historisch bewiesene Leistungsvermögen der Künste ist ihr Maßstab bei der Bewertung auch aktueller Produktionen.
Wir bräuchten als Marxisten keine Beschäftigung mit der Kunst, wenn wir nicht gute Gründe für die Annahme hätten, dass sie uns humanistische Maßstäbe vermittelt, unseren Blick für die Auflehnung der Menschen in ihren alltäglichen Verhältnissen gegen Fremdbestimmung (oder deren Ausbleiben!) sensibilisieren würde, sie nicht das Spannungsverhältnis von Liebe und Haß, Hoffnung und Resignation subtil thematisieren könnte.
Auf diese qualitativen Artikulationsfähigkeiten meint JS jedoch leichtfertig verzichten zu können, weil doch alle “eigenes Wissen, … Erfahrungen und Gefühle” besäßen. Wir bräuchten tatsächlich keine Kunst, wenn sie sich nicht als kollektives Gedächtnis der Menschheit bewährt hätte. Wir könnten uns nicht positiv auf die Künste als symbolisches Gegenprinzip zum den herrschenden Zuständen der Entfremdung und Barbarisierung beziehen, wenn sie nur (wie in der Mehrzahl des offiziösen Kunstschaffens der Gegenwart) im Dekorativen verbliebe oder sich als folgenlose Diskursanordnung darstellt.
Unser Verhältnis zur Kunst ist kein anderes als zur gesellschaftlichen Realität und ihren Widerspruchstendenzen. Wir verlangen zuviel? Ja, das werfen uns alle opportunistischen und reformistischen “Realisten” vor. Für ihren von den Imperativen der Macht geprägten Horizont, ist es eine Provokation, was wir verlangen: Eine friedliche und solidarische Welt, in der die Menschen brüderlich und schwesterlich miteinander umgehen. Wir fordern Gerechtigkeit und Gleichheit, streben an, die der “menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen” des gesellschaftlichen Zusammenlebens (so Marx im “Kapital”) zu schaffen, damit die Menschen in Schicksal selbst gestalten können.
Ja man kann viel verlagen. Und ich darf es JS aus marxistsicher Sicht verraten: Wir müssen viel verlangen, weil durch die Entwicklung der Produktiv- und Kulturkräfte die Realisierung der fundamentalen Menschheitsträume möglich geworden ist. Wir müssen viel verlangen, weil die gegenwärtige Katastrophenentwicklung mit der Perspektive der menschlichen Selbstzerstörung voranschreitet. Wir müssen “unbescheiden” sein, weil durch die Verhinderung qualitativen Fortschritts immer neue Widersprüche aufbrechen und das globale Elend am Leben erhalten wird. Wir fordern “das Himmelreich auf Erden” (Heine), weil sich sonst die höllischen Zustände verfestigen.
Wer angesichts ihrer historisch erwiesenen Leistungsfähigkeit, ihres prinzipiell utopischen und antizipatorischen Charakters, nicht einen Beitrag der Kunst zur Erarbeitung einer Emanzipationsperspektive erwartet und gleichzeitig die Verdummungsstrategien thematisiert, demonstriert ein sehr eigenartiges Verhältnis zum Projekt revolutionärer Gesellschaftsveränderung.
Künstler, sagt JS, könnten nicht über die jeweils gegebenen Verhältnisse hinaus blicken? Ja dann ignoriert sie große Teile des Kunstschaffens vieler Generationen! Versuchsweise sollte sie sich einmal an das Bild von Willi Sitte “Wenn Kommunisten träumen” im Berliner Palast der Republik erinnern. Dass es einem reaktionären “Bildersturm” zum Opfer gefallen ist, organisiert von den gleichen Leuten, die definieren was “legitime Kunst” ist und in ihrer Machtvollkommenheit die offiziösen Kunstausstellungen strukturieren, kann ebensowenig verschwiegen werden, wenn über die Situation progressiven künstlerischen Gestaltens gesprochen wird, wie über die Rolle dieser Szene als Speerspitze eines Kulturimperialismus. Er hat genug Durchsetzungskraft, die “Westkunst” global zum Maßstab in (fast) allen Kunstdingen zu machen.
Künstler hört die Signale
Abwehrend hatte ich zunächst auf die geradezu peinliche Unterstellung von JS reagiert, ich würde von der Kunst vorrangig die Illustration von Partei-Programmen fordern. Da wir ja nun wissen, was wir von ihren Interpretationskünsten zu halten haben, könnten wir es ja auf ein Experiment ankommen lassen und versuchen, diese als Verunglimpfung gemeinte Formulierung positiv zu wenden! JS kennt sicherlich das neue Programm unserer Partei, mit seine Thematisierung der drängenden Klassen- und Menschheitsfragen.
Wäre es nicht eine lohnende künstlerische Aufgabe sich mit dem dort angesprochenen himmelschreienden Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen auseinander zu setzen, auch zu thematisieren, dass die Aufrechterhaltung der Kapitalherrschaft immer neue Opfer verlangt? Wäre es nicht ohne lohnende Aufgabe für Künstler die Tendenz zur planetarischen Selbstvernichtung in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten zu stellen oder sich mit dem widersprüchlichen Charakter der Kräfte der Veränderung zu beschäftigen?
Mit der gleichen Selbstgefälligkeit, wie die Kulturadministratoren (die faktisch immer öfter als Kulturzerstörer wirken) vertritt JS die Meinung, dass die Hoffnungen auf solche Kunst wenig realistisch seien. Sie vergisst nur zu erwähnen, dass erst durch die kulturellen Formierungsprozesse fast alle alternativen Äußerungsformen verdrängt und verleugnet wurden.
Die Durchsetzung des weltabgewandten Modernismus war von Beginn an gegen jede Form sozialer Selbstvergewisserung in den Künsten gerichtet, vor allen auch, wenn sie sich in der progressiv-bürgerlichen Traditionslinie äußerten. Vorrangiger Gegner war jedoch die sich entwickelnde DDR-Kunst, in der eine von den Nazis verfolgte, und von den BRD-Kulturbürokraten verdrängte “andere deutsche Kunst auf vielfältige und einzigartige Weise überlebt und sich zum Teil in bedeutenden Formen fortentwickelt” hatte (E. Beaucamp).
Ob es vielleicht aus diesem Kontext etwas zu erben gäbe? Für JS stellt sich diese Frage im zur Diskussion stehenden Text nicht einmal ansatzweise. Im Stile bürgerlicher Propaganda beteiligt sie sich an den Delegitimierungsversuchen der DDR-Kunst. Beim uninformierten Leser erweckt ihre Argumentation den Eindruck, dass sie hauptsächlich “illustrativ-idealistisch” gewesen wäre und “mit erhobenen Zeigefinger” agiert hätte.
All das hat es gegeben! Diese Verweise sind jedoch kaum geeignet die Leistungen der DDR-Künstler zu charakterisieren, die in ihrer Mehrheit wohl noch nicht einmal Sozialisten gewesen waren. Jedoch bezog sich ihre Kunst in ihrem realistischen Haupttrend auf die Entwicklungsprobleme ihrer sozialistischen Gesellschaft. Die DDR-Kunst ist keine homogene Erscheinung gewesen, sie präsentiert sich nicht nur differenziert, sondern teilweise auch widersprüchlich, doch in ihrem Problembewusstsein, ihrer ästhetischen Gestaltungskompetenz und der Subtilität ihrer Selbstbefragung war sie den phraseologischen Selbstdarstellungsritualen des Pseudo-Avantgardismus haushoch überlegen – und ist es auch in ihren Nachwirkungen noch!
Die kursiv in Anführungszeichen gesetzten Sätze und Begriffe stammen von Julia Sastra.