Sommer 1917 in Deutschland

Sommer 1917 in Deutschland

Blaujacken fordern: Schluss mit dem Krieg

Von Günter Judick

 

Am 2. August 1917 verweigerten 400 Matrosen des in Wilhelmshaven stationierten Linienschiffs “Prinzregent Luitpold” einen in der Freiwache angesetzten Exerzierdienst und verließen das Schiff. Sie protestierten dabei gegen die willkürliche Verhaftung von 11 Matrosen, die schon am Vortag gegen eine schikanöse Beschränkung ihrer Freizeit protestiert und das Schiff verlassen hatten. Die 400 zogen geschlossen zu einem Versammlungslokal in Rüstersiel. Dort ging es allerdings nicht nur um miserable Verpflegung und Offiziersdünkel, sondern um den Weg zum Frieden. “Nieder mit dem Krieg – wir wollen nicht mehr Krieg führen”, das war die Meinung der Versammelten, so wie sie ihr Sprecher Albin Köbis verkündete.

Die Matrosen kehrten pünktlich nach drei Stunden, am Ende ihrer üblichen Freiwache, an Bord zurück. Von einer Gefährdung der Einsatzbereitschaft des Kriegsschiffes konnte keine Rede sein. Sie wurde erst konstruiert, als das Schiff unmittelbar nach der Rückkehr für einen Tag den Hafen verließ, nicht zuletzt um den Kontakt zu den Besatzungen der anderen Schiffe zu unterbinden.

Bei der Admiralität, der Obersten Heeresleitung und der Regierung schrillten die Alarmglocken. Mit großer Mühe hatte man nicht zuletzt mit Hilfe der Sozialpatrioten in SPD und Gewerkschaftsführung, aber auch mit Zwangsmaßnahmen die großen, vom Hunger bestimmten Massenstreiks im April in den Griff bekommen. Nicht zuletzt hatte da der Appell an den Patriotismus, an das “Nicht-im-Stich-Lassen” der Frontsoldaten gewirkt. Doch wenn nun in der Flotte, dem Hätschelkind des Kaisers mit ihrem ausgeprägt elitären Offizierkorps, unter den Mannschaften eine Bewegung gegen den Krieg entstand und sich mit der Arbeiterbewegung verband, dann drohte das Beispiel der russischen Revolution, wo Arbeiter und Soldaten das Zarenregime gemeinsam gestürzt hatten.

Entsprechend hart war die Reaktion auf das erste, spontane Aufbegehren in der Flotte. Im Großeinsatz von Marinejustiz, Untersuchungsbehörden und nicht zuletzt massiver Einschüchterung und Spitzeldiensten gelang es, die auf vielen Schiffen entstandene Protestbewegung aufzudecken und noch einmal zu unterdrücken. Mit schnellen Terrorurteilen gegen die Anführer und dem Verschweigen der Bewegung in der Öffentlichkeit hoffte man rechtzeitig die für die imperialistischen Ziele gefährliche Bewegung zu stoppen. So wurden noch im August Max Reichpietsch, Albin Köbis, Johann Beckers, Willi Sachse und Wilhelm Weber wegen “vollendeten Kriegsverrats” zum Tode verurteilt und in diesem und den Folgeprozessen gegen etwa 50 Angeklagte Zuchthausstrafen von insgesamt 400 Jahren verhängt.

Reichpietsch und Köbis wurden am 5. September in Wahn bei Köln von Heerestruppen erschossen. Die übrigen zum Tode Verurteilten wurden zu 15 Jahren Zuchthaus begnadigt.

Selbstorganisation der Mannschaften

Bei den Untersuchungen und im Urteil wurde der Umfang der Matrosenbewegung, die Entwicklung ihrer Ziele deutlich. Sie entstand aus Protest gegen die miserable Verpflegung der Mannschaften, während in den Offiziersmessen kein Mangel herrschte. Bei dem dichten Zusammenleben auf den Schiffen wurden diese Unterschiede besonders sichtbar. Sie führten im Juni und Juli 1917 zu Protesten, in deren Ergebnis die Mannschaften Menage-Kommissionen wählten um ihre Forderungen nach gerechter Verteilung der Lebensmittel durchzusetzen.

Angesichts unübersehbarer Missstände waren die Kommandanten gezwungen diese gewählten Kommissionen anzuerkennen. Damit wurde der Anfang einer selbstständigen Mannschaftsorganisation geschaffen, die sich zunächst gegen Vorrechte und Klassendünkel der Offiziere richtete. Diese reagierten darauf mit verstärktem Drill und Einschränkung der Freizeit der Mannschaften.

Doch auch ein anderer Gegensatz wurde immer deutlicher. Die mit Milliardensummen geschaffene Hochseeflotte lag untätig in ihren Stützpunkten. Die einzige Seeschlacht Ende Mai 1916 hatte zwar einen Tageserfolg gebracht, aber ebenso deutlich gezeigt, dass man weder fähig war, die britische Flotte entscheidend zu schlagen noch die Fernblockade Deutschlands zu durchbrechen. Doch während die zumeist adeligen Offiziere noch von einer Entscheidungsschlacht schwärmten, wuchsen bei den Mannschaften die Fragen nach dem Sinn des Krieges und die Bereitschaft zur Beendigung des Krieges beizutragen.

Die Menagekommission des Flagschiffes “Friedrich der Große”, in der Reichpietsch, Beckers und Weber arbeiteten, entwickelte sich schrittweise zur Flottenzentrale der Matrosenbewegung. Bei Treffen in den Lokalen des Flottenstützpunktes mit Aktiven von anderen Schiffen wurden die nächsten Schritte gemeinsam beraten. In Wilhelmshaven, aber auch in Kiel und Cuxhaven entstanden Verbindungen zu den Werftarbeitern und deren politischen Organisationen. Flugschriften, Zeitungen und andere Materialien der USPD und der Linksradikalen gelangten so auf die Schiffe.

Max Reichpietsch benutzte einen Urlaub in Berlin um Kontakte zur Führung der USPD aufzunehmen. Dort wurden Hoffnungen geweckt, eine für den 15. August nach Stockholm eingeladene Konferenz sozialistischer Parteien – sie kam nicht zustande – werde zu Aktionen gegen den Krieg aufrufen. Auf den Schiffen begann daraufhin eine Unterschriftenaktion für einen Friedensappell an diese Konferenz, zugleich verbunden mit der Beitrittserklärung zur USPD. Mindestens 5 000 Unterschriften wurden dabei auf den kampfstärksten Einheiten der Flotte gesammelt.

Diskutiert wurde auch, den für den 15. August aus Stockholm erwarteten Friedensappell mit einem Flottenstreik zu unterstützen und jeden Einsatz gegen streikende Arbeiter zu verweigern. Die Sorgen der Herrschenden in OHL und Regierung über eine drohende Verbindung von Arbeiter- und Soldatenbewegung waren also durchaus begründet.

Die durch den Krieg ausgelöste Systemkrise des Imperialismus, die in Russland zur Februarrevolution geführt hatte, erfasste im Sommer 1917 – so wie es Lenin vorhergesagt hatte – auch die anderen imperialistischen Staaten. In Frankreich war schon Ende Mai eine Rebellion ganzer Regimenter gegen die Fortsetzung des Krieges brutal zerschlagen worden. Doch am stärksten spitzten sich die Widersprüche zwischen den räuberischen Kriegszielen und den zu ihrer Durchsetzung erforderlichen menschlichen und wirtschaftlichen Kräfte in Deutschland und bei seinen Verbündeten zu.

Hindenburg-Programm für den “Siegfrieden”

Am Beginn des vierten Kriegsjahres wurden die Zweifel am militärischen Sieg der Mittelmächte auch bei den Befürwortern der gemeinsam festgelegten Kriegsziele stärker. Nach den ungeheuren Verlusten bei Verdun 1916 war zunächst die Oberste Heeresleitung (OHL) zum dritten Mal ausgewechselt worden. Nun waren zwei der entschiedensten Befürworter des Durchhaltens bis zum Siegfrieden, Hindenburg und Ludendorff, an die Spitze gerückt. Während an allen Fronten im Westen, Süden und Osten das Jahr 1917 hauptsächlich von opferreichen Abwehrschlachten geprägt war, sollte der zu Beginn des Jahres 1917 verkündete uneingeschränkte U-Boot-Krieg jetzt England für den Siegfrieden Deutschlands reif machen.

Der Kriegseintritt der USA war die unmittelbare Folge.

Mit dem Hindenburg-Programm und dem Gesetz über den “vaterländischen Hilfsdienst” wurde die Wirtschaft einem militärisch geleiteten Kriegsamt unterstellt, in dem führende Großkapitalisten zusammen mit dem Vorsitzenden des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Schlicke, wirkten, um die letzten Reserven für die Steigerung der Rüstungsproduktion zu mobilisieren. Alle 17- bis 60-jährigen Deutschen wurden zum Hilfsdienst verpflichtet und konnten für die Rüstungsindustrie zwangsverpflichtet werden. Dem Gesetz stimmte im Reichstag neben den bürgerlichen Parteien auch die SPD zu. Nur die knapp 20 bereits aus der SPD-Fraktion ausgeschlossenen Abgeordneten der Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft (SAG) stimmten dagegen.

Zwar gelang es durch diese Maßnahmen, die Produktion von Waffen und Munition erheblich zu vergrößern, doch umso ernster wurde die zivile Versorgung geschädigt.

Der Kriegswinter 1916/17 ging als Steckrübenwinter in die Erinnerung ein. Doch auch im Frühjahr gab es keine Verbesserung der Versorgung. Die Kürzung der Brotration zum ersten April führte Mitte April zur bis dahin größten Streikbewegung.

3 x Kanzlerwechsel in sechs Monaten – Manöver um den “Verständigungsfrieden”

Die deutsche Regierung stand in diesem Sommer 1917 vor zwei Aufgaben. Sie musste sich dem In- und Ausland gegenüber als friedensbereit darstellen, zugleich aber versuchen, ihre wichtigsten Kriegsziele auch bei Verhandlungen über einen Verständigungsfrieden durchzusetzen. Und sie musste zur Absicherung des Burgfriedens mit der SPD demokratische Reformen – zum Beispiel zur Beseitigung des Drei-Klassen-Wahlrechts in Preußen – ankündigen und zumindest für den kommenden Frieden versprechen.

Reichskanzler von Bethmann-Hollweg war an der Entwicklung der Kriegsziele des deutschen Imperialismus immer beteiligt. Es gab keine inhaltlichen Differenzen, wohl aber taktische Differenzen darüber, wie man angesichts der festgefahrenen Fronten zu einer günstigen Friedenslösung kommen sollte. Seit 1915 hatte er sich vergeblich bemüht, mit einzelnen Kriegsgegnern separate Friedensabkommen zu erreichen.

Um der zu erwartenden Friedensinitiative des US-Präsidenten Wilson zuvor zu kommen, schlug der Kanzler im Dezember 1916 in einer Note den Ententemächten die Aufnahme von Friedensverhandlungen vor. Dem gleichen Zweck diente auch die schon nach Bethmanns Sturz verabschiedete Friedensresolution des Deutschen Reichstags, die mit der Stimmenmehrheit der SPD, der Fortschrittlichen Volkspartei und des Zentrums gegen die Rechtsparteien beschlossen wurde. Auch in ihr wird zwar viel Friedensbereitschaft durch Verständigung bezeugt, doch die verschwommenen Formulierungen ließen, wie der neue Reichskanzler der OHL versicherte, Gebietserweiterungen Deutschlands auf dem Verhandlungswege offen. Dennoch war die Regierungspolitik Bethmanns der OHL und den konservativen Rechtsparteien zu schwankend und in der Reformpolitik zu kompromissbereit. Sie setzten beim Kaiser am 13. Juli 1917 den Sturz des Kanzlers durch.

Doch das änderte nichts an den Widersprüchen, an denen sein Nachfolger Michaelis schon wenige Monate später ebenfalls scheiterte. So kam als vorletzter Kanzler des Kaiserreichs schon ab 1. November der bayrische Graf von Hertling an die Regierung. Drei Kanzler in einem halben Jahr waren Ausdruck dafür, dass zwischen den Kriegszielen des deutschen Imperialismus und den realen Möglichkeiten ein unlösbarer Widerspruch bestand.

USPD als Hoffnung und Alternative?

Wie bei den Matrosen im August löste die Gründung der USPD bei vielen mit der Kriegszustimmung der SPD-Führung unzufriedenen Arbeitern große Erwartungen auf eine prinzipielle Politik gegen den Krieg, für den Sturz der dafür verantwortlichen imperialistischen Herrschaft aus. Bereits Ende 1917 hatte sie 100 000 Mitglieder. Doch die USPD hatte viele Gesichter. Sie entstand, als die SPD-Führung die Abgeordneten, die seit Dezember 1915 gegen weitere Kriegskredite stimmten, zunächst aus der Fraktion ausschloss. Sie bildeten dann als SAG eine eigene Fraktion.

Nach einer Konferenz der Parteiopposition im Februar 1917 erfolgte der Ausschluss aus der SPD. Erst dann wurde am 5. und 6. April 1917 die USPD gegründet. An ihrer Spitze standen Zentristen, die zwar für einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen und Kontributionen waren, aber keinen revolutionären Ausweg zeigten. In der USPD wirkten, so wie in der alten SPD, die Vertreter aller Vorkriegsströmungen der SPD.

Ihr Theoretiker blieb Karl Kautsky, der in einem Brief an den österreichischen SP-Führer Victor Adler deutlich schrieb, dass die Gründung der SAG (und der späteren USPD) notwendig wurde, um zu verhindern, dass sich die Opposition um die Liebknecht-Gruppe sammeln würde. In ihren Statuten und ihren Erklärungen wurde deutlich, dass sie ein Zurück zur alten Vorkriegs-SPD und zur alten Internationale wollten, deren Politik 1914 so jämmerlich gescheitert war.

So gab es auch unter den linken Gruppen, die für einen revolutionären Ausweg aus dem Krieg wirkten, keine einheitliche Haltung zur USPD. Ihr stärkster Teil, in der Spartakus-Gruppe organisiert mit stärkerem Einfluss in Berlin, Chemnitz, Düsseldorf, Duisburg, Stuttgart, beschloss am Vorabend der USP-Gründung, sich der USPD anzuschließen, trotz prinzipieller Gegensätze zu deren zentristischer Führung, um den Kontakt zu den Arbeitern nicht zu erschweren. Sie brachten ihre abweichende Position zu den Zentristen in Korreferaten vor und verlangten die volle Selbstständigkeit in ideologischen, politischen und organisatorischen Fragen. Die vorwiegend in Norddeutschland bestehenden linksradikalen Gruppen teilten diese Auffassung nicht, sondern bildeten in klarer Abgrenzung zum Zentrismus eine eigenständige Linksradikale Organisation um die von Johann Knief in Bremen herausgegebene Zeitschrift Arbeiterpolitik.

 

 

← zurück