Klarheit im Ziel – bewegliche Taktik
Geduldige Arbeit zur Veränderung der Mehrheiten
Von Günter Judick
In der ersten Augusthälfte 1917 tagte in Petrograd der 6. Parteitag der SDAPR (Bolschewiki). 157 Delegierte mit beschließender Stimme vertraten 112 Organisationen aus dem ganzen Land, in denen 177 000 Mitglieder erfasst waren. Die Bolschewiki waren in allen Zentren zu einer Massenpartei geworden. Doch der Parteitag machte auch deutlich, dass in Russland zeitweilig die Reaktion das Sagen hatte. Der Parteitag tagte halblegal an verschiedenen Tagungsorten, in denen bewaffnete Arbeiter seine Arbeit absicherten. Lenin und Sinowjew konnten wegen eines laufenden Haftbefehls nicht teilnehmen, hatten sich auf Beschluss der Partei der Verhaftung entzogen. Kamenew, Trotzki, Lunatscharski und Kollontai waren in Haft.
Lenin begleitete die Arbeit des Parteitages durch ständige Hinweise. Die Leitung des Parteitags lag bei Swerdlow. Stalin erstattete den Bericht des ZK über die Arbeit seit der Aprilkonferenz. Bucharin referierte über die Lage im Land, Miljutin sprach über die wirtschaftlichen Probleme und Jurenjew berichtete über Organisationsfragen, darunter auch über die Vereinigung mit der Mittelgruppe und über die Wahlen zur Konstituante. Infolge nicht ausreichender Vorbereitung wurden die Diskussionen über ein neues Parteiprogramm und über die Änderung des Parteinamens verschoben.
Neue Lage, neue Losung
“Die von unserer Partei propagierte Losung der Übergabe der Macht an die durch den ersten Aufschwung der Revolution eingesetzten Räte war eine Losung der friedlichen Weiterentwicklung der Revolution, des schmerzlosen Übergangs der Macht von der Bourgeoisie auf die Arbeiter und Bauern. (…) Heute ist die friedliche Entwicklung (…) der Übergang der Macht an die Räte unmöglich geworden, denn die Macht ist faktisch schon in die Hände der konterrevolutionären Bourgeoisie übergegangen. Die richtige Losung kann heute nur die völlige Liquidierung der Macht der konterrevolutionären Bourgeoisie sein. Nur das revolutionäre Proletariat ist, wenn es von den ärmsten Bauern unterstützt wird in der Lage diese Aufgabe (…) eines neuen Aufstiegs zu erfüllen.”
Diese Aussage in der politischen Erklärung des Parteitags bedeutete den zeitweiligen Rückzug der Losung der sofortigen Übergabe der Macht an die Sowjets, deren derzeitige Führung mit den Kriegsverlängerern nicht nur paktierte, sondern mit Kerenski die Verantwortung für die Fortsetzung des Krieges übernommen hatte. Die zeitweilige Rücknahme der Losung “Alle Macht den Sowjets” bedeutete nicht die Preisgabe des Ziels.
Es ging jetzt um geduldige Arbeit zur Veränderung der Mehrheiten in den Sowjets. Die Partei durfte sich auf keinen Fall von Provokationen zu vorschnellen Aktionen verleiten lassen, bevor “die allgemeine nationale Krise und eine tiefgehende Erregung der Massen günstige Bedingungen für den Übergang der Armut in Stadt und Land auf die Seite der Arbeiter gegen die Bourgeoisie schaffen wird.”
In das vom Parteitag auf 19 Personen erweiterte Zentralkomitee wurden vier Genossen der “Zwischengruppe” aufgenommen: Trotzki, Lunatscharski, Uritzki und Wolodarski. Diese “Zwischengruppe” war nach der Rückkehr Trotzkis und anderer Emigranten in Petrograd entstanden und vereinigte Internationalisten, die in der Vorkriegszeit aus unterschiedlichen Gründen Gegner der Bolschewiki waren und zumeist zentristische, zwischen den Fronten der Bolschewiki und Menschewiki vermittelnde Positionen einnahmen. Auch auf den Zimmerwalder Konferenzen hatte Trotzki noch die sozialpazifistischen Positionen der Mehrheit gegen die von Lenin geführte Linke unterstützt.
Deshalb war es ein Erfolg der Leninschen Bemühungen, die unterschiedlichsten, aus Vorkriegsdifferenzen entstandenen Gruppen der Internationalisten für die Bolschewiki zu gewinnen. Bei der “Mittelgruppe” führte das zum Erfolg, bei den Menschewiki/Internationalisten um Martow nicht. Zwar brachte die “Mittelgruppe” nur 4 000 Mitglieder in die Partei, aber ein bedeutendes Potential von intellektuellen Kräften, die in den Tagen der Revolution und des Bürgerkriegs an vielen Brennpunkten wirkten. Zwei der vier, Uritzki und Wolodarski wurden schon 1918 von der Konterrevolution ermordet.
Ein Blick zurück
Auf der Aprilkonferenz der Bolschewiki hatte sich Lenin in den Hauptfragen durchgesetzt, ohne alle Differenzen damit zu überwinden. Nach wie vor gab es auch in der Parteiführung Mitglieder, die an der Möglichkeit einer zweiten Etappe, des Übergangs zur Macht der Arbeiter, zweifelten. Umso wichtiger war die offensive Darstellung dieses Zieles im Exekutivkomitee der Sowjets, in den unterschiedlichen sich formierenden Gruppen der Linken und unter den Arbeitermassen. Die Schwierigkeiten der Provisorischen Regierung, unter den Bedingungen der Doppelherrschaft von bürgerlicher Regierung und realer Macht der Sowjets die Fortsetzung des imperialistischen Krieges zu verwirklichen, zeigten sich in drei Regierungskrisen.
Als Anfang Mai bekannt wurde, dass der Außenminister und der Kriegsminister sich in Noten an die Kriegsverbündeten verpflichtet hatten, den Krieg mit den gemeinsamen Zielen fortzusetzen, erzwangen Massenaktionen den Rücktritt dieser Exponenten der Kriegspolitik. Erst als bei einer zweiten Umbildung je zwei Menschewiki und Sozialrevolutionäre in die Regierung eintraten und der Sozialrevolutionär Kerenski die Verantwortung übernahm, entstanden die Voraussetzungen für die offensive Fortsetzung des Krieges. So wie die deutschen Sozialdemokraten ihre Komplizenschaft mit der Reaktion 1914 mit der Verteidigung der Nation gegen den Zarismus begründeten, so nutzten die jetzt in die Regierungsverantwortung aufgerückten Mehrheitsparteien der Sowjets nun die sich verzögernde deutsche Revolution dazu, den Krieg als Verteidigung der revolutionären Freiheit gegen die deutsche Monarchie und den Militarismus zu begründen.
Sowjetkongress und Julikrise
Am 16. Juni 1917 wurde in der Hauptstadt der erste allrussische Sowjetkongress eröffnet. Er widerspiegelte das Kräfteverhältnis in den, unmittelbar im März geschaffenen Sowjets im ganzen Land. Die große Mehrheit stellten die Menschewiki, zweite Kraft waren die Sozialrevolutionäre. Nur 103 der insgesamt 790 Delegierten des Kongresses waren Bolschewiki. Der Kongress bestätigte die Mitarbeit der Sowjetvertreter in der bürgerlichen provisorischen Regierung, unterstützte die von den Verbündeten England und Frankreichs geforderte Offensive an der Front und setzte sich für deren Finanzierung durch eine “Freiheitsanleihe” ein.
In zwei grundlegenden Diskussionsbeiträgen vertrat Lenin die ablehnende Haltung der Bolschewiki zur Provisorischen Regierung, begründete die Ablehnung ihrer Kriegspolitik. Es war ein Erfolg der sachlich kritischen Polemik Lenins an den Referaten der führenden Menschewiki, dass ihm zweimal eine verlängerte Redezeit zugebilligt werden musste. In beiden Reden zeigte Lenin den Klasseninhalt der Politik der Provisorischen Regierung auf, zeigte, dass alle Beteuerungen für einen Frieden ohne Annexionen unglaubwürdig sind, so lange das Kapital herrscht.
“Es gibt kein anderes Mittel aus diesem Krieg herauszukommen, als den Übergang der Macht auf die revolutionäre Klasse, die verpflichtet ist in der Tat den Imperialismus zu beseitigen, d. h. die annexionistischen Fäden, die das Finanz- und Bankkapital gesponnen hat, zu zerreißen.” Doch die Kongressmehrheit ging den anderen Weg, der die Fortführung der Revolution auf friedlichem Weg versperrte.
Schon bei Beginn des Kongresses hatte die Mehrheit beschlossen, eine von den Bolschewiki vorgesehene Antikriegsdemonstration zu verbieten. Für drei Tage wurden in der Hauptstadt alle Demonstrationen verboten, danach sollte eine große Demonstration zur Unterstützung der Politik der Mehrheit stattfinden. Die Bolschewiki fügten sich dem Verbot ihrer Demonstration, polemisierten jedoch öffentlich über das Freiheitsverständnis der Kongressleitung. In der Folge demonstrieren dann bei der vom Sowjet einberufenen Demonstration Hunderttausende unter den Losungen der Bolschewiki für Sowjetmacht und Frieden.
Doch noch während des Kongresses begann an der Front die Kerenski-Offensive, die nach kurzfristigen Erfolgen rasch scheiterte und mit großen Verlusten bezahlt wurde. Die Empörung gegen die Kriegspolitik und die schlechte Versorgung führten Mitte Juli zu Massendemonstrationen, die unter Einsatz von Fronttruppen mit Waffengewalt unterdrückt wurden. Es bedurfte der ganzen Autorität der Bolschewiki und auch von Lenin persönlich, die Petrograder Arbeiter angesichts des bestehenden Kräfteverhältnisses zu einem geordneten Abbruch der Aktionen zu überzeugen. Die Juliereignisse, die gewaltsame Unterdrückung friedlicher Aktionen, machte mehr als alle Reden deutlich, dass mit Kerenski nicht die Freiheit, sondern die Konterrevolution das Sagen hatte.
Unmittelbar nach den Juli-Demonstrationen erließ die Provisorische Regierung einen Haftbefehl gegen Lenin und Sinowjew, die der Spionage und des Landesverrats angeklagt werden sollten. Es waren die alten Vorwürfe wegen der Reise durch Deutschland im April, ausgeschmückt mit angeblich neuen Erkenntnissen über Spionagedienste für den deutschen Generalstab. Da das Exekutivkomitee der Sowjets nicht in der Lage war, das Leben der Angeklagten und einen ordentlichen, öffentlichen Prozess zu garantieren, beschloss das ZK die beiden Parteiführer In Sicherheit zu bringen.
Auf dem Weg zur dritten Internationale
Wie im Deutschland des August 1917 gab es auch in Russland im Vorfeld der militärischen Offensive in allen Gruppen der Arbeiterbewegung Hoffnungen, durch eine internationale Aktion der Sozialdemokratie einen Verständigungsfrieden zu erzwingen. Ausgangspunkt war eine Initiative der skandinavischen Rechtssozialisten, die in Zusammenarbeit mit dem Büro der alten II. Internationale die in den Krieg verwickelten Sozialdemokraten über die Fronten hinweg zusammenzuführen um Bedingungen eines Verständigungsfriedens auszuarbeiten. Angesichts der bedrängten Lage Deutschlands lag das ganz im Interesse der deutschen Obersten Heeresleitung (OHL) und der SPD, wie sie in der “Friedensinitiative” des deutschen Reichstags deutlich wurde.
Es ging um die Nutzung der Sozialdemokratie um einen Ausweg aus dem Krieg bei Beibehaltung der imperialistischen Mindestziele zu finden, vor allem aber darum ein Alibi für die weitere Kriegsunterstützung zu schaffen. Es ging um ein Zurück zur II. Internationale, die 1914 so jämmerlich versagt hatte. Auch die zentristische Mehrheit der Zimmerwalder Internationale warb in Russland für eine solche Verständigungskonferenz, ebenso in Deutschland die USPD.
Die Regierungen der Ententeländer verweigerten ihren Sozialdemokraten die Pässe für eine Reise nach Stockholm, erleichterten dadurch ihren Kriegssozialisten die peinliche Absage. So kam die Konferenz der alten sozialdemokratischen Parteien nicht zu Stande. Erst im September 1917 trat in Stockholm die dritte Zimmerwalder Konferenz zusammen, die deutlich machte, dass deren zentristische Mehrheit ebenfalls nur allgemeine Forderungen nach Aktionen und neue Illusionen für eine Nachkriegsordnung hervorbrachte.
Gegen Lenins Rat nahm eine Delegation der Bolschewiki an dieser Konferenz teil, nutzte sie zur Verbesserung der Kontakte zu den Linken in der Zimmerwalder Bewegung. Für Lenin waren diese Konferenzpläne und Ergebnisse der Beweis, dass eine neue revolutionäre Internationale unter Ausschluss aller opportunistischen Strömungen auf der Tagesordnung stand.