“Gemeinsam sind wir unaufhaltsam”
Wie ich die Gründung der SDAJ und den Beginn ihrer Tätigkeit erlebte
Von Rolf Priemer
Rolf Priemer war von 1968 bis 1974 Bundesvorsitzender der SDAJ.
Den “Aufruf zur Gründung einer revolutionären sozialistischen Jugendorganisation”, den wir am 27./28. Januar 1968 im Gründungsausschuss erarbeitet hatten, übergaben wir tags darauf auf einer Pressekonferenz in Bonn – und schreckten damit Jugendverbände, SDS und Öffentlichkeit auf.
Die Aktionen der rebellierenden Jugend weiteten sich aus. In Bremen gab es vom 15. bis 24. Januar 1968 “eine Art Aufstand, der unter dem Titel ´die Bremer Straßenbahnunruhen´ in die Geschichte eingehen sollte”. 15 Jugendliche vom Unabhängigen Schülerbund hatten den Protest gegen eine drastische Erhöhung der Straßenbahn-Fahrpreise mit der Besetzung von Verkehrsknotenpunkten begonnen.
Die Polizei ging – die Zahl der Protestierenden nahm täglich zu – mit Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen sie vor. Die Belegschaften von Klöckner und der AG-Weser solidarisierten sich schließlich mit den Schülern. Am Ende waren 10 000 auf den Straßenbahngleisen und erzwangen eine Rücknahme der Gebührenerhöhungen, zumindest größtenteils.
In anderen Städten formierte sich massenhafter Widerstand gegen die Notstandsgesetze und gegen die Aggression der USA in Vietnam sowie gegen die Bildungspolitik. Die Springerpresse begann eine Hetzkampagne gegen die Jugendlichen. Wochenlang stand in dieser Presse wörtlich zu lesen: “Ihr Krawallmacher!”, “Ihr Radikalinskis!”, “Ihr linken Faschisten!”, “Ihr roten Agitatoren!”, “Ihr Terroristen!”, “Ihr rotes Pack!”, “Ihr rote SA!”.
Am 9. Februar 1968 sahen sich Bundesregierung und Bundestag veranlasst, eine so genannte “Jugenddebatte” zu führen. Bundeskanzler Kiesinger meinte, weitere Geduld sei unverzeihliche Schwäche. Notstands- und Innenminister Lücke bezeichnete das brutale Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten gar als “Verbrechensbekämpfung”! Der Fraktionschef der Unternehmer-Partei, Rainer Barzel, forderte energisch den Schutz der “demokratischen Ordnung”. Der Parlamentsvertreter des Kriegsverbrechers und Multimillionärs Flick, Dr. Wolfgang Pohle, CSU, forderte: “Wir dulden nicht, dass kleine terroristische Gruppen unser gesamtes Volk in Misskredit bringen und obendrein das Verhältnis zu unseren Verbündeten gefährden.”
Vor diesem Hintergrund fuhr ich zusammen mit Walter Möbius nach Trier, um für den “Gründungsausschuss einer revolutionären sozialistischen Jugendorganisation” einen Saal für den Gründungskongress anzumieten. Wir – die dort als Abgesandte der rebellierenden Jugend bestaunt wurden – hatten in der Geburtsstadt von Karl Marx zu dieser Zeit keine Chance.
Auf erhebliche Vorbehalte stießen wir beim SDS, auf dessen Delegiertenversammlung ich den Gründungsaufruf vorstellen wollte verbunden mit der Absichtserklärung, dass sich sozialistische Arbeiterjugend mit sozialistischem Studentenbund solidarisieren wollte. Ich erlebte eine Hasstirade von SDS-Vorstandsmitglied Reimut Reiche, der es wohl nicht ertragen konnte, dass junge Arbeiter und Lehrlinge – ohne die “SDS-Avantgarde” konsultiert zu haben – sich eine eigene Organisation geben wollten. Auf große Skepsis stieß ich auch in Marburg, wo mich Knut Kievenheim zu einer Informationsveranstaltung eingeladen hatte.
Aber der Aufruf fand in den folgenden Wochen und Monaten die Zustimmung vieler Jugendlicher. Wir erhielten über 1 000 Briefe, Zustimmungserklärungen und Anfragen. Bis zum Gründungskongress am 4./5. Mai 1968 unterzeichneten 1 112 Jugendliche aus allen Teilen unseres Landes den Aufruf und unterstützten somit unser Vorhaben, eine marxistische Jugendorganisation zu gründen. In neun Bundesländern entstanden regionale, in 24 Städten bildeten sich örtliche Gründungsausschüsse, deren Mitglieder den Gründungskongress mit vorbereiteten.
Wir trafen uns mit Max Reimann und anderen Genossen der KPD. Dort stießen wir auf große Sympathien, aber auch auf Stirnrunzeln über das von uns gepflegte “rollende R” und unseren Werbebutton “I like Marx”. Stirnrunzeln auf unserer Seite gab es über das beharrliche Nachfragen nach einem Namen für den Verband, über den wir uns noch nicht verständigt hatten. Ich fuhr mit gemischten Gefühlen nach Hause, erlebte dann aber, dass die politische Übereinstimmung zwischen uns für die weitere Gründungsarbeit ein wahrer Segen war.
Denn nun mussten vom Gründungsausschuss im März und April die wichtigsten Vorarbeiten für den Kongress geleistet werden: Aktionsprogramm, Satzung, ein Appell an die jungen Arbeiter und Angestellten, Schüler und Studenten sowie Vorschläge für den Namen des Verbandes. Und da gab es schon Schwierigkeiten bei der Bewältigung dieser Anforderungen. Da war Willi Schwettmann immer an unserer Seite. Im April traf ich mich mit Herbert Mies in Düsseldorf, der mir einen verblüffend einfachen und überzeugenden Vorschlag für die Einleitung unseres Aktionsprogramms vortrug.
Die anhaltende Hetze und Diskriminierung der rebellierenden Jugendlichen eskalierte Ostern 1968. Die neofaschistische “Nationalzeitung” übertraf mit ihrer Hetze noch “Bild”: “Brecht Dutschkes Terror”, hieß es da. Und “Stoppt die roten Banditen”. Am 11. April gab es den Mordanschlag auf Rudi Dutschke von einem aufgehetzten Jugendlichen. Zigtausende belagerten daraufhin am Karfreitag auf Ostersamstag die Verlagshäuser des Springerkonzerns, um eine Auslieferung der Hetzblätter zu verhindern.
Der Gründungskongress am 4./5. Mai 1968 im Schloss Borbeck in Essen stand unter dem Motto “Gemeinsam sind wir unaufhaltsam!”. Vor Beginn des Kongresses begehrte Peter Brandt, Sohn von Willy Brandt, Einlass. Er hatte ein Köfferchen mit Materialien mitgebracht, um uns den richtigen Weg zu weisen. Dem ungebetenen Gast wurde beschieden, dass über den Weg unserer zu gründenden Organisation die Delegierten befinden werden. Er wurde mitsamt Köfferchen abgewiesen.
Am Gründungskongress nahmen 214 Delegierte und 181 Gastdelegierte teil; das Durchschnittsalter betrug 19,8 Jahre; ein Drittel war weiblich. 85 Prozent der 395 Delegierten und Gastdelegierten waren Arbeiter und Angestellte, 8 Prozent Schüler, 7 Prozent Studenten.
Nach meinem Referat entwickelte sich eine lebhafte, über Stunden gehende Diskussion. Herbert Mies, als Mitglied des ZK der KPD vorgestellt und die war ja illegal, überbrachte solidarische Grüße. “Wir Kommunisten solidarisieren uns mit der jungen Generation, die beginnt, diesem Land ein neues politisches Gesicht zu geben. Und wir wünschen euch einen großen Erfolg.” Die Presse notierte “begeisterter, andauernder, zum Teil rhythmischer Beifall”. Am Abend fiel in einer Kampfabstimmung die Entscheidung über den Namen.
Ich meine, dass sich im Namen “Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend” schließlich unsere gemeinsamen Vorstellungen, Ziele und der Charakter der Organisation überzeugend ausdrückten. Am zweiten Tag ging es um Beratung und Beschlussfassung der Satzung, um das Aktionsprogramm, um den Appell und um die Wahl des Bundesvorstandes und von zwei Kommissionen. In einer Pause am frühen Nachmittag konstituierte sich der Bundesvorstand und wählte Rolf Priemer zum Bundesvorsitzenden sowie Wolfgang Gehrcke, Dieter Keller, Walter Möbius und Erwin Seel zu stellvertretenden Bundesvorsitzenden. Dies war zugleich der geschäftsführende Bundesvorstand.
Der neu gegründete Jugendverband beteiligte sich sofort am Sternmarsch der 70 000 gegen die Notstandsgesetze am 11. Mai 1968 in Bonn, am “Europatreffen gegen Neonazismus und Faschismus, für europäische Sicherheit und Völkerverständigung” am 22. Juni in München, an verschiedenen örtlichen und regionalen Aktionen der fortschrittlichen Jugend.
Der Klassengegner reagierte auf die Gründung umgehend. Bei Walter Möbius und mir wurden unter einer fadenscheinigen Begründung Hausdurchsuchungen durchgeführt, Materialien der SDAJ und andere Materialien beschlagnahmt. Ein Strafverfahren wurde wenig später eingestellt, die Materialien wieder her rausgerückt.
Es gab viel zu tun, denn jetzt ging es darum,
- die Organisation aufzubauen und zu festigen;
- der arbeitenden und lernenden Jugend neue Impulse im Kampf um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu geben;
- fortschrittliche Jugendorganisationen in den Auseinandersetzungen zu vereinigen;
- die Mitglieder zu befähigen, die Lehren von Marx, Engels und Lenin auf die konkreten Lebensbedingungen der Jugend anzuwenden.
Die Haupttätigkeitsfelder waren die Solidarität mit dem vietnamesischen Volk, antimilitaristische und antifaschistische Aktionen, die Berufsausbildung und Bildung. Die SDAJ nahm erstmals vom 28. Juli bis 6. August 1968 an den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Sofia teil und nutzte die Möglichkeit, internationale Beziehungen zu Jugendverbänden in vielen Ländern herzustellen, und diese über die Lage der Jugend in der Bundesrepublik zu informieren. Im Herbst 1968 wurden Beziehungen zum Leninschen Komsomol und zur FDJ hergestellt. Über 1 000 SDAJler nahmen 1969 am “Treffen junger Sozialisten” anlässlich des 20. Jahrestages der DDR-Gründung teil. Im Mai 1970 wurde die SDAJ in Kattowice als Vollmitglied in den Weltbund der demokratischen Jugend (WBDJ) aufgenommen, im Herbst in Budapest ins Exekutivkomitee des WBDJ gewählt.
Eine harte Bewährungsprobe mit teils handfesten Auseinandersetzungen stellten im Sommer 1968 die Ereignisse in der CSSR dar. Die SDAJ beurteilte die Vorgänge, die zur Beseitigung des Sozialismus führen sollten, vom Klassenstandpunkt aus und verstärkte in den folgenden Monaten und Jahren ihre Bildungsarbeit. Alle Prophezeiungen, die klare internationalistische Position würde die Entwicklung der SDAJ hemmen oder sogar zu ihrem schnellen Ende führen, erwiesen sich als falsch.
Die SDAJ war ein Aktivist der Lehrlingsbewegung, die sich Ende 1968 und im Jahre 1969 entwickelte, die schließlich zu einer zentralen Lehrlingsdemonstration am 7. Juni 1969 in Köln führte. In vielen Städten bereitete die SDAJ mit ideenreichen Aktionen, in denen die Lehrlingsausbeutung und reaktionäre Berufsausbildung angeprangert wurde, diese zentrale Aktion der 10 000 Lehrlinge und Jungarbeiter vor, führte Arbeiterjugendtribunale und Tribunale gegen Großkonzerne durch. Auf ihrem 2. Bundeskongress im Dezember 1969 in Dortmund befasste sich die SDAJ ausgiebig mit einem Konzept für eine fortschrittliche Berufsausbildung und Bildung.
Im Januar 1969 – anlässlich des 50. Jahrestages der Ermordung der beiden KPD-Mitbegründer – schärfte die SDAJ mit einem “Liebknecht-Luxemburg-Report” in Oberhausen ihr Profil als antimilitaristische Organisation. Anlässlich des 100. Geburtstages von W. I. Lenin führte die SDAJ am 28. Juni 1970 in Hamburg einen Leninkongress durch, der mit einer Solidaritätsdemonstration von 5 000 Jugendlichen mit den Völkern Indochinas endete.
Die Zeit zwischen dem 2. und 3. Bundeskongress der SDAJ stand unter dem politischen Konzept verstärkter Aktionstätigkeit und der Erarbeitung eines Aktionsprogramms, das die wichtigsten und mobilisierenden, die einigenden und vorwärtsweisenden Forderungen der Jugend enthalten sollte.
Der 3. Bundeskongress der SDAJ zu Ostern 1972 in Stuttgart wertete die Erfahrungen aus und verabschiedete die “Fünf Grundrechte der Jugend”. Damit wurde eine außerordentlich erfolgreiche Kampagne im Kampf um die grundlegenden Rechte der Jugend eingeleitet. Die “Fünf” schlugen sich in einer Vielzahl programmatischer Erklärungen anderer Jugendverbände nieder.
In all diesen Kämpfen erstarkten SDAJ und die im September 1968 konstituierte DKP. Dadurch gewann die arbeitende und lernende Jugend kampfstarke Mitstreiter. Mit der Gründung des “Marxistischen Studentenbundes Spartakus” im Jahre 1971 entstand zudem eine Kraft, die großen Einfluss an Hochschulen und Universitäten gewann. Grund für das rasche Wachstum der SDAJ war eine öffentlichkeitswirksame und ideenreiche Aktionstätigkeit.
Auf dem SDAJ-Kongress in Stuttgart konnte berichtet werden, dass die SDAJ von ehemals 10 000 mit 162 Gruppen auf nunmehr 24 000 Mitglieder mit rund 300 Gruppen gewachsen war. Fast zwei Drittel der Mitglieder waren junge Arbeiter, Angestellte und Lehrlinge, knapp ein Drittel Schüler. Zum 4. Bundeskongress der SDAJ 1974 in Hannover war der Verband weiter gewachsen und konnte dort die Gründung der 500. SDAJ-Gruppe verkünden. Es war die SDAJ-Gruppe Schiffweiler im Saarland – den Ort lernte ich in meiner späteren Tätigkeit als DKP-Bezirksvorsitzender näher kennen.
Wolfgang Gehrcke, Rolf Priemer, Walter Möbius, Andreas Otto auf dem Gründungskongress in Essen (von links nach rechts).
Foto: Rose