Der Oktober für uns

Der Oktober für uns, unser Land und die ganze Welt

Dem Volk muss sein revolutionärer Feiertag zurückgegeben werden

 

17 namhafte russische Wissenschaftler und Autoren unterschiedlicher politischer Auffassung, veröffentlichten Anfang Juni 2007 in der Wochenzeitung “Moskowskije Nowosti” einen Aufruf zum 90. Jahrestag der Oktoberrevolution. Die UZ bringt daraus Auszüge:

(…) Keine Verschwörung, sondern eine soziale Revolution

90 Jahre OktoberrevolutionDie Oktoberrevolution brach nicht deshalb aus, weil Verschwörer oder Agenten ausländischer Mächte sie inszeniert hatten. Sie war ein soziales Erdbeben, ein Orkan, ein Tsunami; niemand konnte sie durch bloße Aufrufe auslösen. Die Revolution entstand kraft der den Ereignissen innewohnenden eigenen Entwicklungslogik, in einer Situation, in der zahlreiche Quellen der Unzufriedenheit des Volkes einen einzigen, alles mit sich reißenden Strom speisten. Dies als Produkt einer Verschwörung zu definieren, erscheint zumindest fragwürdig. Wenn das so gewesen wäre, warum konnte dann in so kurzer Zeit in diesem gigantischen Land an Stelle der alten Ordnung die neue Macht errichtet werden, und warum unterstützte das Volk Russlands diese Macht nicht nur schlechthin, sondern verteidigte sie im Bürgerkrieg sogar mit der Waffe in der Hand?

Die Kritiker des “Oktoberputsches” “vergessen” aus irgendeinem Grund jene tiefe Krise, in die Russland von der zaristischen Monarchie und der sie ablösenden Provisorischen Regierung gestürzt wurde. Paralysiert durch die Losung vom “Krieg bis zum siegreichen Ende!” wollten die Herrschenden die realen Nöte des Volkes nicht zur Kenntnis nehmen. Ebenso vergessen besagte Kritiker die Selbstzerstörung der Monarchie, von der die nicht enden wollenden Intrigen und Konflikte am Zarenhofe zeugen, sie vergessen die militärischen Niederlagen an der Front und schließlich die Abdankung des Herrschers und Oberkommandierenden der russischen Armee, Nikolai II.

Als unfähig erwies sich auch die bürgerliche Regierung, welche die Monarchie ersetzte. Sie sah sich nicht imstande, die Hauptaufgaben jener Zeit zu lösen: die Beendigung des Krieges und die Übergabe des Bodens an die Bauern.

Der Oktober war der Kulminationspunkt der großen russischen sozialen Revolution. Ihre Führung übernahmen revolutionäre Sozialdemokraten, denen früher als anderen die Nöte und Sehnsüchte der einfachen Leute bewusst geworden waren, jene zugespitzten Probleme, deren Lösung die russische Gesellschaft um die Jahrhundertwende harrte. Und selbstverständlich spielten Wladimir Uljanow (Lenin) und seine engsten Mitstreiter die Hauptrolle unter ihnen. Keiner der Führer des Oktober war ohne Sünde. Es ist ebenso wenig korrekt, sie zu vergöttlichen wie sie zu dämonisieren.

Die heute gegen sie erhobenen gehässigen Verleumdungen haben keinerlei reale Basis. Diese Menschen dienten niemandem, sie dienten revolutionären Idealen. Keinerlei irdische Versuchungen, sei es in Form von Geld oder sonstigen Attributen spießigen Wohlstands, hatten für sie Bedeutung. An ihr ganzes Leben legten sie den allerhöchsten Maßstab an: den des selbstlosen Dienstes für die Freiheit und das Glück aller Unterdrückten und ins Elend Gestoßenen.

Die Revolution reduziert sich nicht auf Gewalt

Die Oktoberrevolution wird nicht selten als “gewaltsamer Umsturz” bezeichnet. Der “Umsturz” in Petrograd gelang jedoch nahezu ohne menschliche Opfer. Auch wenn wir keine Anhänger der Gewalt sind, anerkennen wir doch ihre Unausweichlichkeit in solchen Stadien der historischen Entwicklung, die durch Klassen- und nationale Antagonismen gekennzeichnet sind. In der Tat gehen Revolutionen vielfach mit Gewalt einher, wie es sich z. B. auf anschauliche Weise in den bürgerlichen Umwälzungen der Niederlande, Englands und Frankreichs zeigte. Bekanntlich führte die Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika zum blutigsten Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts. Auch in Russland verband sich der Niedergang des Feudalismus mit Kriegen und Revolutionen.

Dabei waren derartige Erscheinungen nicht die Folge von Ränkespielen politischer Intriganten, sondern die der Krise des vorhergehenden Systems und der Unmöglichkeit, die angestauten Probleme auf evolutionärem Weg zu bewältigen. Die Bedingungen für eine gewaltsame Revolution entstehen immer dann, wenn die herrschende Klasse, verblendet durch die Gier nach eigener Bereicherung und Erhaltung ihrer Privilegien, das Wohlergehen des Volkes vernachlässigt. In einem solchen Fall bleibt den besitzlosen Klassen kein anderer Ausweg, als ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Dies ist eine der Hauptlehren der großen russischen Revolution.

Zudem ist es nicht die soziale Umwälzung, die zu Gewalt führt, und schon gar nicht zu solcher in Form des bewaffneten Kampfes. Ihr letztendliches Ziel ist die Erschaffung einer neuen Welt, die Herstellung bestmöglicher Bedingungen für alle Menschen und nicht nur für die oberen Schichten der Gesellschaft. In diesem Sinne erweisen sich solche Revolutionen tatsächlich als Lokomotiven der Geschichte, die den historischen Fortschritt beschleunigen.

Was die Oktoberrevolution leistete

In der Geschichte verschiedener Länder gab es eine Vielzahl von Aufständen der Werktätigen gegen den Kapitalismus. Aber nur bei uns erlangten sie einen derart weitreichenden Charakter. Das machte das Russland des 20. Jahrhunderts zum Epizentrum der gesellschaftlichen Entwicklung, in dem sich alle grundlegenden Probleme der damaligen Welt verschränkten und sich der Ausgang der Grunderkrankung des Kapitalismus – des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit – entschied. Nur die russischen Arbeiter besaßen ausreichend Willen und Entschlossenheit, um einen Weg zur Überwindung dieses Gegensatzes zu finden, einen Weg, der darin bestand, nicht nur den Kapitalismus zurückzudrängen, sondern zugleich den Übergang zu einem progressiveren sozialen System, zum Sozialismus, einzuleiten.

Der Pariser Kommune folgend, hob die Oktoberrevolution die unteren Schichten der Gesellschaft auf die Höhen der Macht: Arbeiter, Bauern und die deren Interessen vertretenden Teile der Intelligenz. Dieser gesellschaftliche Umbruch festigte die Sowjets als die demokratischste Form politischer Machtausübung, was dem durch den Krieg ausgezehrten Volk den langerwarteten Frieden, Boden und nationale Selbstbestimmung sicherte. Millionen Werktätige zu sozialem Schöpfertum stimulierend, zeigte die Revolution auf anschauliche Weise, dass nicht nur die Elite dazu befähigt ist, Subjekt und Demiurg der Geschichte zu sein.

Im Ergebnis der Oktoberrevolution bildeten sich in der Welt zwei sozial gegensätzliche Systeme heraus, die in vielerlei Hinsicht den Gang der weiteren Menschheitsentwicklung bestimmten. Und dank des Einflusses des Oktober entstand die nationale Befreiungsbewegung, begann die Reformierung des kapitalistischen Systems selbst. Unter dem Einfluss der russischen Revolution vollzog sich der Zerfall des Kolonialsystems und der Zusammenbruch längst überlebter monarchistischer Regime.

Die Oktoberrevolution beförderte eine supranationale und überkonfessionelle Idee: die Idee der sozialen Befreiung und Gerechtigkeit. Auf ihrer Grundlage entstand erstmals in der Geschichte eine Union gleichberechtigter Völker – die UdSSR. Die Ideen und Taten des Oktober standen im Einklang mit den Zielen und dem Lebenswerk zahlreicher Titanen aus Kunst und Wissenschaft: Timirjasew und Wernadskij, Platonow und Majakowski, Scholochow und Eisenstein. Die dem Oktober innewohnende Kursbestimmung der Bewegung hin zu einer sozialistischen Zukunft fand seinerzeit die aktive Unterstützung herausragender Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Bernard Shaw und Picasso, Einstein und Ziolkowski.

Die sowjetische Geschichte verlief vielgestaltig

Der Oktober legte die Grundlage der sowjetischen Geschichte. (…) In ihr gab es alles: gewaltige Errungenschaften und schreckliche Tragödien. Wir wissen nur zu gut darüber Bescheid, welch blutiger Bürgerkrieg nach der friedlichen Machtübernahme durch die Werktätigen in einem Großteil der Gouvernements Russlands entbrannte, begleitet von ausländischer Intervention, von “weißem” und von “rotem” Terror.

Der Sowjetmacht mangelte es natürlich an der erforderlichen historischen Erfahrung, und dadurch unterliefen ihr viele Fehler. (…)

Gestützt auf die Erfahrung und die Bedeutung der NÖP erarbeitete Lenin den Plan zur weiteren Entwicklung des sowjetischen Staates, der radikale politische und ökonomische Umgestaltungen des Landes einschloss. Diese Veränderungen konzentrierten sich auf einen Durchbruch in der Entwicklung der Energiewirtschaft, der Kultur und der Bildung – in Sphären also, die nicht nur für das 20., sondern auch für das 21. Jahrhundert bestimmend werden sollten und sollen.

Sie erforderten die Demokratisierung des politischen Systems vermittels der Einbeziehung der Arbeiter und Bauern in die Verwaltung des Staates und der Erneuerung der kommunistischen Partei. Letzteres schloss die Notwendigkeit ein, Stalin, der schon in dieser Phase seine Illoyalität, Grobheit und Neigung zum Machtmissbrauch an den Tag legte, vom Posten des Generalsekretärs abzulösen.

Allerdings wurden diese Vorhaben nicht entschieden genug verwirklicht. Das nach dem Tod Lenins sich herausbildende machtfixierte Herrschaftssystem, das den Sozialismus als ureigenstes Ziel verkündete, bewirkte in der Praxis vieles, was dem widersprach. So wurde die vom Oktober proklamierte politische Freiheit der Bürger vollständig beseitigt. Als unangemessen hoch erwies sich der Preis, der für die Durchführung der Industrialisierung und Zwangskollektivierung bezahlt werden musste. Im Ergebnis mutierte die Volksmacht der ersten Revolutionsjahre zur Herrschaft der Bürokratie unter ihrem Führer Stalin. Wir verweisen auf die Verbrechen der Stalinschen Massenrepressionen, auf die Verletzungen der Menschenrechte und der Rechte ganzer Völker in der UdSSR. All das diskreditierte die Ideale der Revolution und des Sozialismus.

Wir sind uns der genannten Fakten wohl bewusst, verwehren uns aber zugleich gegen im wissenschaftlichen Gewand daherkommende Lügen und einseitige, stumpfsinnige Propaganda die sowjetische Geschichte als Ganzes betreffend. Diese Geschichte war vielgestaltig; in ihr kämpften und verdrängten einander demokratische und bürokratische Tendenzen. (…)

Kein einziges Land kann auf eine unumstrittene Geschichte verweisen. Die Gräuel der britischen und französischen Kolonialkriege oder die Sklavenhalterherrschaft in den USA waren wohl kaum besser als der sowjetische Gulag. Das verhinderte jedoch nicht die sozialen und kulturellen Errungenschaften in diesen Ländern. Warum also sollte man vergleichbare Leistungen des sowjetischen Volkes negieren, wie den hart errungenen Sieg über den Faschismus, die Schaffung einer unverwechselbaren Kultur und Literatur, das erreichte System der sozialen Sicherheit für die Bevölkerung, die ersten bahnbrechenden Schritte in den Kosmos?

Man darf nicht vergessen, welche bislang ungekannte schöpferische Energie der Oktober bei der von den Massen getragenen Errichtung einer neuen Gesellschaft freisetzte, wie er viele Ideen des Internationalismus verwirklichte, wie er die früheren Unterschichten der russischen Gesellschaft an die Gipfel der nationalen und Weltkultur heranführte. Ebenso wenig darf man aus der sowjetischen Geschichte jenen Enthusiasmus streichen, den die Volksmassen bei der Aneignung der neuesten Errungenschaften von Wissenschaft und Technik unter Beweis stellten. In ihm zeigten sich anschaulich die revolutionär-romantische Veranlagung und der Heroismus von Millionen Sowjetbürgern.

Warum das sowjetische Modell scheiterte

Es sei hier betont, dass wir unterschiedliche Ansichten bezüglich der Natur der Gesellschaftsordnung, die sich in der UdSSR herausgebildet hatte, vertreten. Aber wir stimmen darin überein, dass die Geringschätzung oder gar Aufgabe jener vom Oktober hervorgebrachten Prinzipien der Volksherrschaft, des Internationalismus, der Gerechtigkeit und des Humanismus früher oder später eine mit dem Aufbau des Sozialismus befasste Gesellschaft in die Katastrophe führen musste. Und eben dies ereignete sich in der Sowjetunion.

Die Fesselung der schöpferischen Initiative der Menschen unter den Bedingungen des totalitären Regimes begrenzte die Möglichkeiten des Wachstums der sowjetischen Wirtschaft immens. Das Warendefizit wurde zu ihrer charakteristischen Eigenschaft. Daraus resultierend gelang es uns nicht, den Wohlstand der Werktätigen auf das Niveau der entwickelten Länder der Welt zu heben, was zu einer der Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetordnung wurde. Eine zweite wichtige Ursache stellte das Fehlen realer politischer und ökonomischer Demokratie im Lande dar, ein Zustand, der besonders unter den Bedingungen der vollen Entfaltung der weltweiten technologischen und informationellen Revolution nicht mehr hinnehmbar war.

Infolge all dessen kam es zur Entfremdung der bürokratischen Macht von den Werktätigen. Die Versuche, im Verlauf der Perestroika diese Entfremdung zu überwinden, erzielten nicht die notwendigen Resultate. Im Ergebnis wurden die KPdSU und die Sowjetmacht gestürzt. Diese Situation nutzten dann jene politischen Kräfte, die die UdSSR auflösten und Russland auf den Weg hin zur Errichtung eines wild wuchernden oligarchischen Kapitalismus brachten, eines Kapitalismus mit Massenarbeitslosigkeit, Verfall des Lebensniveaus des Volkes, tiefgreifender sozialer Segmentierung der Gesellschaft, Aufblühen des Nationalismus und Wachstum der Kriminalität.

Aus dem Scheitern des sowjetischen Gesellschaftsmodells ist nicht zu folgern, dass die Ideale des Oktober falsch sind. (…) Das historische Projekt des Sozialismus wird nicht im ersten Anlauf verwirklicht. Schon formiert sich eine neue, junge Generation, welche das kapitalistische System nicht akzeptiert. Es gibt allen Grund zu hoffen, dass es ihr gelingt, die Ideale der Oktoberrevolution neu mit Leben zu erfüllen. (…)

Die historische Bedeutung des Oktober ist nur schwer über zu bewerten. Seine positiven Folgen sind augenscheinlich. Ein Drittel der Menschheit zog einen Teil seines Weges auf den von ihm angelegten Magistralen. Zahlreiche Länder setzen diese Bewegung heute fort, wobei sie die Lehren aus den Niederlagen und Tragödien der Vergangenheit berücksichtigen. Der Oktober bewies, dass eine andere, gerechtere Welt möglich ist. Diese streben heute unterschiedliche soziale und politische Kräfte, Länder und Völker an. Davon zeugt die neue Welle revolutionärer Veränderungen, die sich besonders kraftvoll in einer Reihe von Ländern Lateinamerikas und Asiens entfalten.

Die Oktoberrevolution war und bleibt unser Schicksal, und wir können uns von ihr als dem wichtigsten Teil der Geschichte Russlands nicht lossagen. (…) Am Vorabend des 90. Jahrestages der Oktoberrevolution erheben wir unsere Stimme gegen diese Praxis. Dem Volk muss sein revolutionärer Feiertag und die Wahrheit über den Oktober zurückgegeben werden. Man darf nicht vergessen, dass wir in einem Land leben, dessen Geschichte eine große Revolution verzeichnet. Darauf kann und muss man stolz sein.

 

Prof. Dr. habil. W. G. Arslanow, Kulturwissenschaftler; Prof. Dr. habil. G. A. Bagaturija, Philosoph; Prof. Dr. habil. A. W. Busgalin, Ökonom; Prof. Dr. habil. M. I. Bojekow, Ökonom; A. I. Borobjow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften; Prof. Dr. habil. A. A. Galkin, Historiker; Prof. Dr. habil. S. S. Dsarassow, Ökonom; Dr. habil. L. G. Istjagin, Historiker; Prof. Dr. habil. D. Sch. Kelle, Philosoph; Dr. habil. A. I. Kolganow, Ökonom; Prof. Dr. habil. W. T. Loginow, Historiker; Dr. habil. R. A. Medwedew, Historiker; Prof. Dr. habil. E. N. Rudik, Ökonom; M. F. Schatrow, Dramaturg; Dr. habil. S. L. Serebrjakowa, Historikerin; Prof. Dr. habil. B. F. Slawin, Philosoph; Dr. habil. O. N. Smolin, Philosoph, Deputierter der Staatsduma”

Übersetzung aus dem Russischen von Peter Borak
(“junge Welt”, 23. 8. 07)

 

 

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