Auf dem Weg zum Roten Oktober

Auf dem Weg zum Roten Oktober

Die Februarrevolution in Russland

Von Günter Judick

 

“Die erste vom imperialistischen Weltkrieg erzeugte Revolution ist ausgebrochen. Diese erste Revolution wird nicht die letzte sein. Die erste Etappe dieser Revolution, nämlich der russischen … ist nach den in der Schweiz vorliegenden kargen Nachrichten zu urteilen, abgeschlossen. Diese erste Etappe ist sicher nicht die letzte Etappe unserer Revolution.”

Diese optimistische und wegweisende Einschätzung der Februarrevolution stand am Anfang des ersten Briefes aus der Ferne, den Lenin aus der schweizerischen Emigration am 20. April, nur wenige Tage nach dem Sturz der Zarenherrschaft, nach Petrograd schickte und der von der Prawda veröffentlicht wurde.

Es war eine geradezu klassische revolutionäre Krise, durch den Kriegsverlauf zugespitzt, die zum Ausbruch der Revolution im Frühjahr 1917 führte: die Herrschenden konnten in der alten Form nicht weitermachen, die Beherrschten, Arbeiter, Soldaten, Bauern waren nicht gewillt, so wie bisher zu leben. Sie, die aktiv handelnden Volksmassen, bestimmten das Ergebnis dieser Revolution, die die mehr als 300-jährige Selbstherrschaft der Romanows stürzte, Manöver zur Rettung des Zarismus durch Personenwechsel durchkreuzte und aus dem bis dahin despotischen Russland für eine kurze Zeit das demokratischste Land Europas mit den größten Volksrechten machte.

Doch der spontanen Volksrevolution fehlten weitgehend die Konzeptionen, den Erfolg dauerhaft zu sichern und die ungelösten Probleme, vor allem das der Beendigung des Krieges, zu lösen.

Der Krieg hatte alle morschen Seiten des Zarismus sichtbar gemacht. Trotz großer Anstrengungen und riesigen Opfern der Soldaten hatten alle großen Schlachten des Krieges an der Ostfront letztlich mit Niederlagen geendet. Misswirtschaft, Korruption, Günstlingswirtschaft und Desorganisation hatten erheblichen Anteil an den militärischen Misserfolgen. Deshalb gab es in den höchsten Rängen des Militärs und selbst in der engsten Umgebung des Zaren Kräfte, die eine Abdankung des Zaren und seinen Ersatz durch einen anderen Romanow für notwendig hielten.

Auch in der Duma, der gesetzgebenden Körperschaft, in der durch das Wahlgesetz die Mehrheiten für die Gutsbesitzer und Kapitalisten gesichert war, wuchs die Unsicherheit. Ihre Parteien, die Oktobristen und die Kadetten sahen die Fortsetzung des Krieges durch die Schwäche des Zarismus gefährdet. Ihre Sorge wurde von den Diplomaten Englands, der USA und Frankreichs, den Verbündeten im Krieg und Hauptanlegern des ausländischen Kapitals in Russland geteilt, die aktiv auf Veränderungen im Rahmen des zaristischen Systems drängten.

Die Krise im System der Herrschenden spitzte sich zu. Als der Zar die Einberufung der Duma kurzerhand um einen Monat auf den 27. Februar (nach altem russischem Kalender, den 12. März nach westeuropäischer Rechnung) verschob.

Doch gerade in diesen Tagen erreicht der Massenwiderstand gegen den Hunger eine neue Qualität, der Massenkampf verlagert sich aus den Betrieben auf die Straßen der Hauptstadt.

Schon am 22. Januar, dem 12. Jahrestages des Petersburger Blutsonntags 1905, beteiligten sich 300 000 Arbeiter an einem Gedenkstreik. Von da an riss die Welle der Streiks gegen die Arbeitsbedingungen und den zunehmenden Hunger in der Hauptstadt nicht ab. Befehle des Zaren an Polizei und Militär zur Unterdrückung der Streiks blieben wirkungslos. Am 6. März wurden die Streikenden aus den Putilow-Werken und anderen Großbetrieben von den Unternehmern ausgesperrt.

Ein besonderer Frauentag

Am 8. März zogen die Petrograder Frauen zu einer Hungerdemonstration vor das Rathaus. Sie ließen sich auch durch Polizeiaufgebote und berittene Kosakeneinheiten von ihrem Protest nicht abhalten. Die Protestaktion der Frauen, unterstützt von den ausgesperrten Arbeitern, war der erste Tag ansteigender Massenaktionen, die sich als stärker erwiesen als der Polizeiterror. Am 10. März wurde der Generalstreik verkündet, in den folgenden Tagen weigerten sich immer mehr Regimenter der Garnison, gegen die Demonstranten vorzugehen, teilweise halfen sie die Polizei zu entwaffnen.

Der Unterdrückungsapparat der alten Macht wurde handlungsunfähig. Am 12. März war in Petrograd der Kampf zugunsten der Massen entschieden. Die Hauptstadt mit ihrer in den Großbetrieben konzentrierten Arbeiterschaft gab das Signal, Moskau und die übrigen Industriezentren folgten.

Nun wurde auch die Duma, deren Sitzung auf den 12. März einberufen war, gezwungen aktiv zu werden, wollte sie die Macht nicht den Massen überlassen. Ein Versuch der Menschewiki, die Arbeiter zu einer Demonstration für die Duma zu gewinnen schlug fehl, es kamen nur wenige hundert. Besorgt um das entstehende Machtvakuum entstand zunächst ein provisorisches Komitee der Duma, gebildet aus Vertretern der beiden Parteien, die unterschiedliche Kapitalinteressen vertraten, und den Sozialrevolutionären und rechten Menschewiki. Die Versuche seiner Repräsentanten, den Zaren zum Thronverzicht zu überreden, führten am 15. März 1917 zum Erfolg, der Versuch, den Zarismus durch die Übergabe der Macht an einen Zarenbruder zu retten scheiterte.

Die Doppelherrschaft – eine historisch neue Erscheinung

Am Abend des 12. März konstituierte sich auf Einladung eines provisorischen Vollzugsausschusses der Sowjet der Arbeiterdeputierten. Einlader waren Dumaabgeordnete der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, der Gewerkschaften und Genossenschaften und Mitglieder der Arbeitergruppe des “Zentralen Kriegsindustrie-Komitees”. Die letztgenannten waren gerade aus der Haft befreit worden, hatten jedoch bis zu ihrer Verhaftung sich redlich bemüht, die Arbeiter in der zaristischen Kriegsindustrie ruhig zu halten.

Sie wurden erst verhaftet, als ihre Bemühungen am Kampfwillen der Arbeiter scheiterten. Festgelegt wurden von diesem provisorischen Komitee auch der Delegiertenschlüssel, auf je 1 000 Beschäftigte sollte ein Delegierter in den Berieben gewählt werden. Auch die zur Revolution übergegangenen Soldaten wurden aufgefordert, in den Kasernen Delegierte zu wählen.

Die so zusammentretenden Delegierten beschlossen in ihrer ersten Beratung die Bildung eines gemeinsamen Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Erste Beschlüsse befassten sich mit der Versorgungslage. Zur Sicherung der Revolution wurde die Aufstellung einer Miliz zur Verteidigung beschlossen, zu der jeder Betrieb 100 Mann abstellen sollte. In den Bezirken sollten bevollmächtigte Kommissare eingesetzt werden zur Wiederherstellung der Ordnung und zum Kampf gegen Anarchie und drohende Pogrome.

Mit einem “Befehl Nr. 1” der sich an die Garnison der Hauptstadt richtete, wurde die Bildung von gewählten Ausschüssen der Mannschaft angeordnet. “In allen politischen Aktionen unterstehen die Truppeneinheiten dem Sowjet der Arbeiter-und-Soldaten-Deputierten und den eigenen Ausschüssen. Befehlen der Kommission der Staatsduma ist nur dann Folge zu leisten, wenn sie den Beschlüssen des Sowjets … nicht widersprechen.”

Alle Waffen sollten der Kontrolle der gewählten Ausschüsse unterliegen und in keinem Fall an Offiziere ausgegeben werden. Im Befehl Nr. 2 vom 18. März wurde zwar die Frage der Wahl der Offiziere durch die Mannschaften offen gelassen, den Ausschüssen aber ein Einspruchsrecht gegen die Ernennung bestimmter Offiziere eingeräumt. Mit all diesen Beschlüssen wurde deutlich, das in diesen Tagen der Sowjet die reale Macht verkörperte, ohne dessen Unterstützung kein anderes Organ wirksam werden konnte.

Die provisorische Regierung verfügte in der Hauptstadt und den Zentren des Landes, in denen ebenfalls innerhalb weniger Tage Sowjets entstanden waren, über keine eigenen Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse. Deshalb war es besonders wichtig, dass mit Kerenski als Justizminister ein Sozialrevolutionär ins Kabinett eintrat, der zugleich noch 2. Vorsitzender des Petrograder Sowjets war und es auch als Minister zunächst blieb. Es gelang ihm, die Mehrheit des Sowjets davon zu überzeugen, die Bildung der provisorischen Regierung zu akzeptieren und deren Arbeit zu unterstützen.

Die Bolschewiki in der ersten Etappe der Revolution

Erst die Volksrevolution schuf den Bolschewiki die Möglichkeit zur legalen Organisation. Zum Unterschied zu den Menschewiki und Sozialrevolutionären, die in der Duma, in legalen Arbeiterorganisationen und ihrer Presse auch im Krieg öffentlich arbeiten konnten, waren die Duma-Abgeordneten der Bolschewiki ebenso wie ihre bekannten Führer seit Kriegsbeginn verhaftet. Auch die Prawda und andere Zeitungen waren unterdrückt. Lenin, Sinowjew, Bucharin und andere, die sich wie Trotzki erst 1917 den Bolschewiki anschlossen, waren seit Jahren in der Emigration.

Die aus den Gefängnissen befreiten und die wenig später aus der Verbannung zurückkehrenden bekannten Kader der Partei, darunter die beiden ZK Mitglieder Ordshonikidse und Stalin, Swerdlow, Kamenew, Dzierzynski und andere stärkten rasch die aus der Illegalität hervortretenden Parteikomitees. Als Leitungsorgan entstand ein russisches Büro des Zentralkomitees der Bolschewiki, das in seinem ersten Aufruf am 12. März die Arbeiter aufforderte Delegierte zu wählen und eine Regierung unter Führung der Arbeiter zu bilden.

Die Partei verfügte am Beginn ihrer legalen Arbeit über etwa 24 000 Mitglieder, davon etwa 2 000 in der Hauptstadt. Mehr als 60 Prozent der Mitglieder waren Arbeiter. Zu den ersten Aufgaben der Partei gehörte die Organisation des Wiedererscheinens der Prawda, dem wichtigsten Sprachrohr zu den Massen. Einen Monat später waren schon etwa 100 000 Kommunisten organisiert in 600 Organisationen in allen Zentren des Landes.

Aus der streng illegal arbeitenden Partei war eine rasch wachsende Massenpartei mit fester Verankerung in den Betrieben entstanden.

Keine Unterstützung der Provisorischen Regierung

Lenin begrüßte die energischen Schritte im Land zur raschen organisatorischen Festigung der Bolschewiki. In der Begeisterung der Revolution war jedoch in einigen Gebieten die klare Abgrenzung zu den Menschewiki schwächer geworden. Besorgt verfolgte Lenin auch die politischen Losungen in der Prawda, die sich an den Zielen der Revolution von 1905 festmachten, ohne ausreichend die Veränderungen seither zu erkennen. So vertraten Kamenew, Molotow, auch Stalin in dieser Zeit die Auffassung, die Sowjets müssten die Provisorische Regierung im Auftrag der Arbeiter kontrollieren, während Lenin die Übernahme der ganzen Macht durch die Sowjets als nächsten Schritt der Revolution propagierte.

“Das Proletariat kann und darf eine Regierung des Krieges, eine Regierung der Restauration nicht unterstützen. Was der Kampf gegen die Reaktion … erfordert, das ist keineswegs die Unterstützung der Gutschkow und Co., sondern die Organisierung einer proletarischen Miliz … die Bewaffnung des Volkes unter Führung der Arbeiterklasse”, schrieb Lenin wenige Tage vor seiner Abreise aus Zürich in einem weiteren der insgesamt fünf Briefe aus der Ferne.

Heimkehr auf riskantem Weg

Sofort nach Bekanntwerden der Revolution hatten Lenin und Sinowjew, aber auch Martow (Menschewik, Internationalist) und andere russische Emigranten nach Wegen gesucht, so rasch wie möglich nach Russland zurückzukehren. Schweizer Sozialdemokraten hatten dabei geholfen.

Doch während Martow hoffte, die provisorische Regierung mit den “Sozialisten Kerenski und Tscheidse” werde ihre Bemühungen unterstützen, bestätigten sich Lenins Zweifel. Weder die Provisorische Regierung Russlands noch ihre Kriegsverbündeten in England und Frankreich waren an einer Rückkehr russischer Revolutionäre interessiert. Doch die Zeit drängte.

So blieb nur ein Weg, der unter Vermittlung des Sekretärs der Schweizer Sozialdemokratie, Fritz Platten, ermöglicht wurde. Im geschlossenen Waggon reisten Lenin, Sinowjew und andere Bolschewiki, aber auch einige Menschewiki und andere Sozialisten durch Deutschland nach Stockholm.

Am 3. April erreichten sie im Zug Petrograd. Mit Lenins Aprilthesen begann eine stürmische Diskussion um den weiteren Weg der Revolution.

 

 

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